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So still die Nacht

So still die Nacht

Titel: So still die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Lenox
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nächtlichen Dunkel bewegte.
    Er behielt sein Tempo bei und sandte eine durchdringende Energiewelle aus, die wie eine Explosion aus weißem Licht alles um ihn herum für seinen Geist durchleuchtete und ungeachtet dicker Mauern das Verborgene enthüllte: Ein Fischhändler schob seinen Karren durch die Nebengasse. Drei Ratten taten sich mit wedelnden Schwänzen an einem frischen Müllhaufen gütlich. Ein Schwarm Küchenschaben huschte im Keller der Metzgerei zwei Straßen weiter umher. Und irgendjemand – oder irgendetwas – verfolgte ihn, vage wahrnehmbar in seinem Bewusstsein, zu schnell und in seiner Bewegung zu sprunghaft, um es zu identifizieren. Sein Attentäter – oder irgendein anderer Widersacher?
    Ein erwartungsvolles Lächeln umspielte Marks Lippen bei dem Gedanken an den bevorstehenden Kampf. Es juckte ihn in den Fingerspitzen, ein amaranthinisches Silberschwert oder einen Dolch zu schwingen, aber da seine Transzendierung ihm dieses Privileg genommen hatte, würde er mit seinen Händen auskommen müssen.
    Auf der anderen Straßenseite lag ein Pub, das Queen’s Elm, aus dessen Tür die munteren Töne eines Pianos drangen. Vielleicht sollte er sich vor der Auseinandersetzung noch einen Drink genehmigen. Er genoss seine Laster, den Tabak und den Alkohol; seine unsterbliche Konstitution verhinderte glücklicherweise unangenehme Nebenwirkungen, wenn er ihnen frönte.
    Er trat in die Wirtsstube und ging durch ein Wirrwarr nicht zusammenpassender Stühle und Tische direkt zur Theke. Der säuerlich-süße Duft von über Holz verschüttetem Bier verpestete die Luft. Zwei knabengesichtige Seeleute beugten sich über das Klavier, die Arme umeinander gelegt. Sie sangen lallend und schwangen im Rhythmus mit der Musik ihre Bierhumpen:
    »Sechs kleine Nutten, die zogen aus die Strümpf.
    Jack hat nicht nur zugeschaut, da waren’s nur noch fünf.
    Jack das Tier, reimt auf vier.
    Also drei, ich bin dabei,
    Setz die Stadt in Brand.«
    Jack the Ripper. Der Bastard verdiente kein Lied. Schon eigenartig, wie Sterbliche die Dinge glorifizierten, die sie am meisten fürchteten. Soldaten saßen an den Tischen; wahrscheinlich hatten sie Ausgang und kamen aus der Kaserne in Chelsea, die nur wenige Schritte entfernt lag.
    »n’Abend, Chef.« Der kahlköpfige Wirt war damit beschäftigt, die Holztheke mit einem grün karierten Lumpen abzuwischen. »Ich würde Ihnen ja unseren Nebenraum anbieten« – er deutete mit dem Daumen über die Schulter –, »aber da ist schon jemand.«
    Mark schaute zu dem Fenster in der Zwischenwand. Der Raum dahinter gewährte dem Gast Anonymität und Privatsphäre – trotzdem hatte er volle Sicht auf den Schankraum.
    »Ich werde nicht lange bleiben.« Er deutete auf eine Flasche mit irischem Whiskey.
    Der Mann hob die Flasche hoch. »Sieht so aus, als wäre sie fast leer. Sie sollen nicht den Bodensatz bekommen. Ich werde Ihnen eine neue Flasche holen.«
    Mark nickte. Schließlich kehrte der Wirt zurück, eine Flasche in der Hand. Mit einem Messer hebelte er den Korken heraus und goss ein gutes Maß der bernsteinfarbenen Flüssigkeit in ein angeschlagenes Glas. Mark kramte in seiner Hosentasche nach Geld, aber der Wirt klopfte auf die Theke.
    »Nicht nötig, der Drink ist schon bezahlt.«
    Mark stand für einen Moment reglos da. »Von wem?«
    »Von dem Herrn dort drin.« Der Wirt wies mit dem Kopf zu dem Fenster des Nebenraums, hinter dem es dunkel war.
    Von einer behandschuhten Hand wurde ein Becher gehoben, um ihm zuzutrinken.
    Langsam tat Mark das Gleiche.
    Dann ließ er das Glas auf das Holz sinken und lächelte. Sein Puls beschleunigte sich. Gott, trotz der Gefahr war es gut ,wieder in London zu sein. Er umrundete die Theke, eilte die wenigen Stufen hinauf und drückte die Tür auf. Der kleine Raum war leer, bis auf eine Holzbank.
    Als er sie spürte, wirbelte er herum.
    Eine Gestalt stürzte auf ihn zu, das Gesicht unter einem breitkrempigen Hut verdeckt, und verpasste ihm mit einem kniehohen Stiefel einen Tritt gegen die Brust. Er geriet aus dem Gleichgewicht und fiel rücklings auf die Bank. Seine Verfolgerin hatte er bereits erkannt, und statt einer Begrüßung ließ er die Gewalt zu. Ihr volles Gewicht landete auf seiner Brust und presste ihm Gelächter aus den Lungen. Gott, ein Knie in die Rippen. Hände rissen ihn am Kragen hoch.
    Selene funkelte auf ihn herab, ihre Augen tiefschwarz.
    Er grinste. »Ich habe dich vermisst.«
    »Ich sollte dich jetzt töten, Bruder.«
    »Spieglein,

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