So still die Nacht
Spieglein an der Wand.« Er spannte seine Muskeln an und schleuderte seine Zwillingsschwester gegen die Wand. Krach.
Gips rieselte von der Wand. Sie fiel, verhedderte sich mit ihren langen, in Hosen steckenden Beinen in ihrem Cape. »In der Tat, du bist wie deine Mutter.«
»Sprich nicht über sie«, zischte sie, sprang auf die Füße und stürzte sich auf ihn. »Du hast kein Recht dazu. Sie würde dich genau wie ich für das verachten, was du getan hast. Du hast es weggeworfen, Mark. Du hast alles weggeworfen für einen Moment der Prahlerei. Und damit kein Zweifel besteht, ich habe Sendschreiben um Sendschreiben an die Ahnherren geschickt und sie angefleht, mich diejenige sein zu lassen.«
»Selene …«, warnte er.
»Deine Vollstreckerin«, schäumte seine Schwester, während sie die Krempe ihres Huts richtete. Eine dicke purpurne Feder an ihrem Hut zitterte. »Ich warte nur auf den Befehl.«
Sie wandte sich von ihm ab, und ihr Gesichtsausdruck wurde leer. Traurigkeit überschattete ihn.
Dann war sie fort.
Mark wusste, dass die Gewalttätigkeit ihrer Begegnung die Farbe seiner eigenen Augen verändert hatte, und setzte hastig seine Brille auf, um den bronzefarbenen Schimmer zu verbergen – gerade als der Wirt die Treppe heraufgeeilt kam.
»Was zur Hölle …?«, fragte er.
»Eine Familienangelegenheit«, knurrte Mark.
»Wo ist der andere Herr geblieben?«
Mark schob sich am Wirt vorbei. Zumindest wusste er jetzt, wer ihn auf der Straße verfolgt hatte. Er richtete sein Halstuch und setzte den Zylinder wieder auf, dann duckte er sich und stieg die Treppe hinunter. Er hatte nicht damit gerechnet, Selene in dem Schankraum noch einmal anzutreffen, und sie war auch nicht dort, nicht einmal im Schatten verborgen.
Die anderen Gäste machten einen großen Bogen um ihn, trotzdem hatte sich anscheinend jemand mit seinem Drink davongemacht. Er suchte den Blick des Wirts.
»Noch einen Whiskey«, knurrte er.
Mark setzte sich auf einen Hocker und schaute zornig in den großen Spiegel, der sich über die Wand hinter der Theke zog, während er an seinem Whiskey nippte. Seine Brille glitzerte im Kneipendunst. Die dünne Schicht Silber unter dem Glas war zerfallen und machte sein Spiegelbild scheckig und unvollständig – ein weit zutreffenderes Porträt seiner selbst, als er es zugeben mochte.
Selene war offensichtlich immer noch so zornig über seine Entscheidung, sich der Transzendierung zu unterwerfen, wie sie es vor sechs Monaten gewesen war. Er verstand die eigentliche Ursache ihres Ärgers – ihre Furcht davor, allein gelassen zu werden. Jahrhundertelang hatten sie außer einander niemanden auf der Welt gehabt, niemanden, der wirklich ihrer beider Gefühle und die Geschichte hinter ihrem Weg als einsame Söldner verstand. Dass sie den Wunsch haben sollte, seine Mörderin zu sein … nun, er hätte nichts Geringeres von ihr erwartet.
Gleichzeitig verletzte ihn ihr Mangel an Vertrauen. Sie teilte seinen Ehrgeiz und den brennenden Wunsch, sich einen Namen zu machen. Gewiss wusste sie, dass er, wenn er von der Transzendierung zurückkehrte, eine unvergleichliche Legende unter den Schattenwächtern sein würde – und bei der ganzen amaranthinischen Rasse. Sobald er die Schriftrollen gefunden hatte und die erlösende Verbindung, die sie verhießen, wiederhergestellt war, konnte sich Selene sicher sein, dass er eine Entschuldigung verlangen würde.
Irgendjemand ließ sich auf den Hocker neben ihm gleiten. Der Spiegel zeigte, dass die Frau dunkelhaarig, dunkeläugig und schlank war, eine von mehreren Prostituierten, die im Pub auf Kundschaft hofften. Ihr aufgeknöpftes Mieder war mit viel zu viel schäbiger Spitze verziert und stellte ihren Busen zur Schau. Sie beugte sich vor und positionierte ihre Brust so, dass sie gegen seinen Arm drückte.
»Willst du mitkommen und etwas von deinem Frust an Annie auslassen?« Ein kühnes Lächeln umspielte ihre Lippen.
Er hatte nie Gefallen an Straßenprostituierten gefunden. Die Realität ihres Lebens stieß ihn ab. Sie waren schmutzig, verzweifelt und krank. Trotzdem, wenn er schielte, konnte dieses spezielle Mädchen vielleicht ein wenig so aussehen wie … Miss Limpett.
Nimm sie.
Benutz sie.
Verschling sie.
Schmerz schoss ihm durch die Schläfe. Er presste die Finger auf den pochenden Puls. Der Befehl hallte in seinem Kopf wider.
Während er in den Spiegel starrte, in seine eigenen ausdruckslosen Augen, rief er sich ins Gedächtnis, dass die Stimme nicht ihm
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