So unerreichbar nah
zumindest für mich - bestand darin, dass die Anzahl der Klienten, die nicht
unter ernsthaften psychischen Problemen litten und lediglich jemanden zum Reden
brauchten, immer mehr anstieg. Manchmal ertappte ich mich dabei, während den
endlosen Monologen dieser Klientel gedanklich gelangweilt abzuschweifen und
stattdessen auf meinen Notizblock zu kritzeln, was ich nach Feierabend noch
erledigen musste. Da waren dann unter "Leeregefühl, Lebensüberdruss, Ausgebranntsein"
plötzlich Worte wie "Kostüm von Reinigung abholen, Kloreiniger kaufen,
Pillenrezept einlösen" zu lesen. Diese Selbstdarsteller empfand ich mehr
und mehr als Zeiträuber und beschloss, bei der Auswahl meiner neuen Patienten
strengere Maßstäbe anzulegen. Ich wollte den Menschen, die zu mir kamen und damit
natürlich auch mir selbst Erfolgserlebnisse vermitteln. Johannes und Max hatten
mich ausgelacht, als ich ihnen das bei einem abendlichen Drink eingestanden
hatte.
»Mensch, Tessa,
sei froh, dein Geld auf so leichte Weise verdienen zu können und denk an die
armen Kollegenschweine in den psychiatrischen Abteilungen der Krankenhäuser, die
einen echt harten Job machen müssen! Willst du vielleicht mit denen tauschen?«
Nein, ich
wollte nicht in der Psychiatrie arbeiten. Wie ich von meinen diversen Praktika
wusste, gab es da genügend Patienten, Kollegen und Bürokratievorschriften, die
einen auch als Therapeuten in den Wahnsinn treiben konnten. Ich war gerne
Freiberuflerin. Nur kam ich mir bei einzelnen Patienten vor wie ein Mülleimer,
in welchen sie ihren gesamten Frust und Lebensüberdruss abluden, ohne konkrete
Hilfe zu benötigen. Das waren die Fälle, bei denen ich mich nach einer Sitzung
ausgelaugt und selber schlecht drauf fühlte. Meistens reagierte ich mich dann
durch Bewegung ab, indem ich in meiner Mittagspause wie eine Verrückte im
Stechschritt durch den Englischen Garten marschierte. Bei schlechtem Wetter
tobte ich mich an den Geräten im Fitnessraum unseres Bürogebäudes aus.
Ich trat
durch die Doppelglastüren hinaus in einen dunklen Januarabend und sog tief die
milde, feuchte Luft in meine Lungen. Der Asphalt glänzte nass-schwarz und in
den Unebenheiten des Teerbelages hatten sich Wasserpfützen angesammelt. Seit
Heiligabend regnete es beinahe ununterbrochen, die Leute jammerten ständig über
den fehlenden Schnee, die Klimaerwärmung und die Nässe. Aber mir reichte es,
wenn es in den Bergen schneite, in der Stadt war die weiße Pracht meiner Meinung
nach völlig unnötig: Sie sorgte für glatte Straßen, verursachte jede Menge
Auffahrunfälle, wurde schnell zu braunem Matsch und morgens war man gezwungen,
wie auf rohen Eiern über vereiste Bürgersteige zu balancieren. Da spannte ich
doch viel lieber einen Regenschirm auf.
Auf dem Weg
zum Parkhaus um die Ecke, wo ich für meinen Wagen einen Dauerparkplatz gemietet
hatte, klingelte mein Handy.
»Hi, Tessa,
ich bin´s. Bist du für heute schon fertig mit deinen Bekloppten?«
Ich grinste
wider Willen. So respektlos von meinem Job sprach nur eine: Meine
Jugendfreundin Lisa. Sie arbeitete in einer Werbeagentur, entwarf und
präsentierte Marketingstrategien, hatte alles im Griff und brachte für Leute,
die mit ihrem Leben nicht fertig wurden, nur sehr geringes Verständnis auf.
»Hallo, Lisa.
Ja, ich habe Feierabend. Hör auf, dich über meinen Job lustig zu machen. Du
arbeitest doch ebenfalls unter Verrückten, die sich als Kreative tarnen. Der
Unterschied zu meinen Patienten besteht nur darin, dass sie nicht erkennen, wie
durchgeknallt sie sind, dich eingeschlossen!«
Lisa blieb
unbeeindruckt.
»Mir geht es
prima. Jeder hat irgendeine Macke, aber deswegen muss man nicht gleich zum
Psychologen rennen. Ist mir sowieso total peinlich, dass ausgerechnet meine
beste Freundin eine Seelenklempnerin ist. Aber jetzt zum eigentlichen Grund
meines Anrufs: Simon und ich haben für morgen Abend Premiere-Karten fürs
Opernhaus, es wird Mozarts "Entführung aus dem Serail" gespielt. Gerade
hat mir mein Liebster telefonisch mitgeteilt, er könne nicht mitkommen, da er
Bereitschaftsdienst für einen Kollegen übernommen hat. Dessen Kind ist
angeblich krank.«
Ihre helle
Stimme hatte beim letzten Satz einen äußerst genervten Tonfall angenommen. Und
jetzt klang sie regelrecht angewidert.
»Langsam geht
er mir mit seiner ständigen Fürsorge für andere total auf die Nerven. Dauernd
muss ich zurückstecken.«
Völlig
automatisch und ohne nachzudenken verteidigte ich den
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