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So unerreichbar nah

So unerreichbar nah

Titel: So unerreichbar nah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marleen Reichenberg
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atmete
unwillkürlich enttäuscht aus, als ich stattdessen auf eine völlig leere weiße
Wand starrte. Links stand eine junge Frau in Jeans und T-Shirt hinter einer Art
Stehpult und begann zu sprechen. Wir, die Zuschauer, erfuhren, dass sie als
Erzählerin durch die Handlung führen würde und uns jeweils ansagte, wo sich die
handelnden Personen gerade befanden. Auch eine Möglichkeit, die Bühnenbildner
einzusparen, dachte ich sarkastisch.
    Im Laufe der
kommenden Stunden saßen die Sänger in Straßenkleidung auf verschiedenfarbigen Sofas,
welche an einer Art Schiene mitten auf der Bühne hingen und wie Seilbahnen hin-
und hergezogen wurden. Und die Fantasie der Zuschauer wurde durch die
Erzählerin angeregt, die uns den Palast des Sultans und das Serail in einem
gewollt monotonen Vortrag schilderte. Ich war geneigt, meinem Liebsten, der
sich gähnend zu mir beugte und lautstark flüsterte: »So ein Scheiß!«
uneingeschränkt beizupflichten, wurde aber durch die strafenden Blicke und die
Psst-Geräusche der uns umgebenden Kunstbegeisterten eingeschüchtert.
    Als sich die
Bühne verdunkelte, etwa zwanzig gutgebaute junge Männer mit nackten Oberkörpern
und eng anliegenden weißglänzenden Leggings barfuß an den Rand des
Orchestergrabens kamen und sich in einer langen Reihe zu uns gewandt wortlos
aufstellten, richtete ich mich erwartungsvoll auf. Sollte jetzt die eigentliche
Aufführung beginnen? Würden diese knackigen Chippendale-Verschnitte einen Strip
hinlegen? Nach den bisherigen Szenen war ich auf alles gefasst. Nein, wie ich
gleich darauf lernte, hatte meine Vorstellungskraft im Gegensatz zu der des
Intendanten ihre Grenzen: Diese männlichen Sahneschnittchen stellten die in
einem Harem unvermeidlichen Eunuchen dar und führten uns sehr plastisch ihre
Entmannung vor. Die düster klingende Musik schwoll unheilverkündend an, in
präzisem Gleichklang beugten sich die Jungs nach vorn, hoben etwas vor ihnen Liegendes
vom Boden auf und klatschten sich mitten auf ihr Gemächt einen mit blutroter Farbe
getränkten Schwamm, den sie nach getaner Arbeit schwungvoll und synchron über
ihre rechte Schulter nach hinten warfen. Ein kollektives schmerzliches Zucken
und Aufstöhnen ging durch die Zuschauerreihen. Ich vermutete stark, dass diese
empathische Kundgebung ausnahmsweise vom überwiegend männlichen Teil der
Opernbesucher stammte.
    In der verbleibenden
Zeit bis zur Pause huschten von Zeit zu Zeit einige dieser
"Kastrierten" mit ihren "blutverschmierten" Unterteilen
schweigend und dekorativ über die leere Bühne, bevor sie wieder im
Seitenbereich verschwanden.
    Mit einem
raschen Seitenblick auf Pauls düsteren Gesichtsausdruck war mir sonnenklar,
dass ich den zweiten Teil dieser Premiere nicht mehr miterleben durfte. Wie ich
ihn kannte, würde er mit mir zusammen in der Pause die Flucht ergreifen. Aber
angesichts dieser Zumutung da vorn erschien mir das nicht so tragisch. Ich
ertappte mich, während ich mit geschlossenen Augen wenigstens die herrliche
Musik (an der man glücklicherweise nichts modernisieren konnte) genoss, darüber
nachzudenken, ob das Geld, das wir für die Karten draußen im Fall einer Spontanversteigerung
erhalten hätten, für ein edles Essen im Gourmet-Restaurant Tantris gereicht
hätte. Vielleicht standen ja noch ein paar Unentwegte draußen und warteten
darauf, wenigstens die zweite Premierenhälfte sehen zu können? Skrupellos beschloss
ich, ihnen kein Wort von der fürchterlichen Inszenierung zu erzählen, sollten
wir die Karten tatsächlich immer noch verkaufen können.
    Endlich fiel
der Vorhang zur Pause und Paul konnte sich gar nicht schnell genug von seinem
Sitz erheben. Er packte meine Hand, zischte mir ein unmissverständliches: »Wir
gehen!« zu und zog mich hinter sich her zum Ausgang. Ich konnte ihn verstehen.
Das hier war eine Zumutung und Zeitverschwendung, auch für Opernbegeisterte wie
mich. Selbst die kreative Lisa würde das so auffassen, wenn ich ihr diese
Inszenierung schilderte.
    Paul kämpfte
sich, immer noch mit mir an der Hand, durch das dichte Getümmel derer, die am
Foyer an der Sektbar anstanden, in Richtung Garderobe. Wie ich erfreut
feststellte, waren wir nicht die Einzigen, die dieses Ziel ansteuerten. Es gab
noch etliche andere, deren erboste Mienen verdeutlichten, dass auch sie über
den verpatzten Abend verärgert waren und die armen Garderobieren mussten sich wütende
Kommentare zu dieser eigenwilligen Aufführung anhören. Paul und ich hatten uns
eben

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