So unselig schön
das noch regenfeuchte Gras. Dann hob sie mit sicherem Griff den Kopf der Toten aus dem Müllbeutel und legte ihn auf der vorbereiteten Fläche ab. Janas Augen waren geschlossen. Ein verwirrend friedlicher Ausdruck lag auf dem weißen Gesicht. Es war ungeschminkt, was Dühnfort irritierte. Er ging in die Hocke und warf einen Blick auf die Fingernägel. Sie waren manikürt, aber nicht lackiert. Seltsam. Am Daumennagel der rechten Hand entdeckte er einen Rest dunkelroten Nagellack. Währenddessen zog die Rechtsmedizinerin mit einer Pinzette etwas aus einer Haarsträhne hervor und betrachtete es. »Sieht aus wie ein Strassstein, der aus einem Schmuckstück herausgebrochen ist. Sehen Sie, ein Stück der Fassung ist noch dran.«
Dühnfort betrachtete den blitzenden Stein. Etwas rührte sich in ihm, stieg an die Oberfläche. Dunkler Haare Massen … darin Geschmeide prangen. »Merde!« Da war er wieder, dieser Satz, dem er doch hatte nachgehen wollen, jetzt allerdings um einige Worte ergänzt. Woher kannte er diese Zeilen?
»Was ist Merde?«, fragte Gina.
»Hat jemand einen Laptop? Kommt man hier ins Netz?«
»Ich habe meinen im Auto liegen.«
Dühnfort folgte Gina zu ihrem Golf, wo sie den Laptop hervorholte, ihn aufs Dach legte und sich einloggte. »Was brauchst du?«
»Ich mache schon.«
Sie trat zur Seite. Er startete den Browser und gab »Dunkler Haare Massen« in die Suchmaske ein.
»Was?« Gina sah ihm über die Schulter.
Die erscheinende Liste zeigte nur wenige Treffer an, doch nun wusste Dühnfort wieder, woher er diese Worte kannte. Von Agnes. Besser gesagt aus dem Gedichtband, den er sich ihretwegen letztes Jahr gekauft hatte. Baudelaire. Die Blumen des Bösen. Er klickte auf einen Link. Eine Website öffnete sich, und das Gedicht erschien, blutrot auf Schwarz geschrieben.
***
Eine Märtyrerin. Zeichnung eines unbekannten Meisters.
Dühnfort überflog die Zeilen, bis er gefunden hatte, wonach er suchte:
Gleich den Gesichten, die, aus Schatten fahl entlassen,
Unsere Blicke fangen,
Ruht still das Haupt, mit dunkler Haare Massen,
Darin Geschmeide prangen,
Merde. Verflucht noch mal! Warum war er diesen Worten nicht nachgegangen?
»Ich glaube es ja nicht.« Gina starrte auf den Monitor.
In einem Raum, der lau ist wie ein Treibhaus
Und unheilschwanger überall,
Wo letzte Seufzer haucht ein Blumenstrauß
In einem Sarge aus Kristall,
Ergießt ein Leichnam ohne Kopf in stetem Fließen
Auf Kissen seine Wogen
Von frischem, rotem Blut, das gierig wie von Wiesen
Vom Laken aufgesogen.
Ihre Stimme wurde während des Lesens leiser, nahm einen unwirklichen Klang an. »Dafür braucht er das Blut. Für die Laken … gierig wie von Wiesen aufgesogen … Er lässt dieses Gedicht Wirklichkeit werden.«
»Zeichnung eines unbekannten Meisters. Er malt es«, sagte Dühnfort. »Er ist der Meister.« Wo letzte Seufzer haucht ein Blumenstrauß in einem Sarge aus Kristall. Das Bild, das er vor einer Stunde bei Fuhrmann gesehen hatte, ließe sich so beschreiben.
»Also doch unser Freund Bruno«, meinte Gina.
Dühnfort nahm das Handy aus der Tasche, rief Alois an, der noch mit Walter Bichler sprach, und bat ihn zu kommen.
Dühnfort erklärte ihm, worum es ging, und zeigte ihm das Gedicht. »Ich denke, das ist ein Durchbruch. Du fährst zu Lichtenbergs Anwesen. Wenn er unser Mann sein sollte, wird der Baudelaire-Gedichtband Die Blumen des Bösen in seinem Regal stehen, vermutlich ziemlich zerfleddert vom häufigen Lesen.«
»Wenn er unser Mann sein sollte? Du glaubst nicht daran?« Alois wandte den Blick vom Monitor. »Er setzt das Bild, das Baudelaire mit Worten gemalt hat, um. Er malt das in Öl. Lichtenberg ist der Einzige, der das könnte.«
Dühnfort wusste es nicht. Es war eine Frage von Selbstbild und Selbstverständnis, und außerdem war da noch etwas anderes, eine Ahnung, die langsam in ihm aufstieg.
***
Wieder hatte Vicki schlecht geschlafen, hatte von ihrer Mutter geträumt und allem möglichen anderen Mist. Im Morgengrauen war sie dann aufgestanden und hatte Tee gekocht, den sie auf dem Miamistuhl sitzend im Garten trank.
Jobst mit seinem kindischen Glauben an Mutterliebe. Als ob die angeboren wäre, dachte Vicki. Meine Mutter hat mich jedenfalls nicht geliebt. Sie hat es nicht nur nie gesagt, sie hat es auch nicht gezeigt. Ich war ihr so scheißegal wie nur was. Für sie war ich Ballast. Das Ergebnis eines geplatzten Kondoms oder einer ausgekotzten Antibabypille, was wahrscheinlicher war.
Als
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