So unselig schön
der Becher leer war, ging Vicki hinein. Irgendwo musste die Schachtel mit den Fotos sein. Sie fand sie im Regal und stellte sie auf den Schreibtisch. Eigentlich hatte sie keine Lust hineinzuschauen. Der Deckel sollte auf der Vergangenheit bleiben. Und wenn Jobst noch einmal damit anfing, dann würde sie ihm sagen, das Thema sei ab sofort tabu. Entschlossen stellte sie den Karton zurück.
Sie war sauer auf ihn, weil er es irgendwie ständig schaffte, diesen ganzen alten Scheiß aufzuwühlen. Dennoch hatte sie sich, ohne es zu wollen, in ihn verliebt. Er könnte mein Vater sein, dachte sie. Vielleicht fühlte sie sich ja genau deshalb zu ihm hingezogen. Vaterersatz. Vicki lachte, nahm den Deckel vom Terrarium und holte Epiktet heraus. »Warum habe ich mich bloß von ihm küssen lassen? Hast du eine Ahnung?« Verschlafen schob die Schildkröte den Kopf aus dem Panzer und ruderte mit den Beinen. Vicki setzte sie auf den Dielenboden.
Und dann hatte sie den Kuss auch noch erwidert. Ein undefinierbares Ziehen setzte sich in ihren Bauch. Wohin würde das führen? Ungewissheit lag vor ihr wie eine glatte Fläche, ein spiegelnder See.
Vicki wusch sich, schlüpfte in die Klamotten, fütterte Epiktet und setzte ihn zurück in sein Terrarium.
Der Regen hatte über Nacht aufgehört, und der Himmel war klar. Heute konnte sie wieder mit dem Rad fahren.
Am Pfanzeltplatz sah sie auf die Kirchturmuhr. Es war erst halb acht. Sie würde zu früh zur Arbeit kommen. Richtig zu früh. Egal. Während sie durch Neuperlach radelte, musste sie wieder an diese Berghütte denken. An die Tage, die sie dort oben verbracht hatte, bis ihr endlich die Idee gekommen war, dass sie den Weg nur bergab gehen musste und, selbst wenn sie irgendwo falsch abbog, im Tal ankommen würde. Aber weshalb waren sie überhaupt dort hinaufgegangen?
Vicki bremste vor einer roten Ampel und starrte auf das Licht. Sie wusste es nicht. Diese Frage hatte sie sich nie gestellt. Weshalb hatte Hermi sie auf diesen Berg geschleppt? Wer konnte das wissen?
Niemand.
Oder vielleicht doch. Vielleicht Omas Freundin Renate. Sie hatte im selben Haus gewohnt, eine Etage höher. Ob sie noch dort lebte?
Die Ampel wurde grün. Vicki fuhr weiter. Eigentlich wollte sie nicht in der Vergangenheit wühlen, aber gleichzeitig wusste sie, dass sie es trotzdem tun würde.
Kurz nach acht erreichte sie das Reisebüro. Sie kaufte in der Bäckerei am Platz noch schnell eine Breze, sperrte die Tür zum Reisebüro auf und schloss hinter sich wieder ab. Geöffnet wurde um halb neun. In der kleinen Küche warf sie die Kaffeemaschine an. Clara würde überrascht sein, wenn ihr Morgenkaffee bereits fertig war.
Vicki setzte sich an ihren Platz und startete den Computer. Gestern hatte sie alles weggearbeitet, und in der Ablage neben dem PC lagen keine neuen Jobs. Zeit, ein wenig zu surfen. Auf der Website der Telefonauskunft suchte Vicki nach Renate Glinka, Omas Freundin, und wurde sofort fündig. Nach wie vor wohnte sie im selben Haus in Untergiesing, wie damals vor zehn Jahren, als Oma gestorben und Vicki in eine Pflegefamilie gekommen war.
Kaffeeduft zog durchs Büro. Sie stand auf, füllte einen Becher und zog die Breze aus der Papiertüte. Während sie frühstückte, sah sie aus dem Fenster, beobachtete die Leute, die über den Platz gingen, und dachte an gestern.
Das Geknutsche war haarscharf davor gewesen, außer Kontrolle zu geraten. Wer weiß, wo es geendet hätte, wenn sie nicht gegangen wäre. Gegangen war allerdings nicht so ganz treffend. Wie eine doofe Tussi aus einem Rosamunde-Pilcher-Film hatte sie ihre Sachen zusammengerafft und war auf und davon. Bei der Erinnerung daran wurde ihr ganz heiß vor Scham. Souverän war anders.
Der Ficus brauchte Wasser. Vicki stand auf und goss ihn. Ein Typ in schwarzen Klamotten ging über den Platz. Im ersten Moment schrak Vicki zusammen und dachte, es sei Buthler.
Wie er sie gestern mit den Augen ausgezogen hatte. Und dann dieser Vergleich mit Salomé. So ein Schmarrn. Dachte er etwa, er könne sie mit so einem dämlichen Kompliment beeindrucken? Falls es überhaupt eins gewesen war?
Vicki setzte sich wieder an den Computer, googelte Franz von Stuck + Salomé und klickte auf das erste Ergebnis. Das Bild einer halbnackten Tänzerin erschien, deren blanker Oberkörper sich wie heller Marmor vom dunklen Hintergrund abhob. Ein Arm war in die Taille gestützt, der andere erhoben wie bei einer indischen Tempeltänzerin. Den Kopf hatte sie in den
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