So unselig schön
ausgezogen ist, hat er den ganzen Plunder mitgenommen«, erklärte Renate, die Vickis Blick bemerkt hatte.
»Ihr habt euch getrennt?« Renate und Wilhelm hatten für Vicki zusammengehört wie Topf und Deckel.
»Spätlifecrisis. Der Witz ist nur, dass seine Neue ein Jahr älter ist als ich. Dafür ist sie häuslicher, puschelt ständig um ihn herum, kocht und backt … ach lassen wir das.« Der grimmige Zug, der sich um Renates Munde gezeigt hatte, verwandelte sich in ein Lächeln. »Zur Feier des Tages habe ich einen Marmorkuchen gebacken. Ist zwar schon ein bisschen spät dafür, aber magst du ein Stück?«
Renate hatte den Esstisch in der kleinen Küche gedeckt. Auch sie war neu und passte viel besser zu Renate als Eichenmöbel und gestickte Kissen.
Während Vicki ein Stück Kuchen aß, erzählte sie in groben Zügen, wie es ihr in den vergangenen Jahren ergangen war. Sie erzählte von der Pflegefamilie, dem Heim, in dem sie bis zu ihrem achtzehnten Geburtstag gelebt hatte, davon, dass sie das Gymnasium geschmissen hatte, leider, und dann einige Zeit durch Europa gezogen war und nun eine Ausbildung zur Reiseverkehrskauffrau machte. »An die Zeit davor, bei Oma, kann ich mich noch gut erinnern. Aber an meine Mutter kaum noch.«
»Du warst ja erst sechs, als Hermi starb. Ach, das war so schrecklich. Wie hat sie ihr Leben nur so wegwerfen können?« Renate zog die Strickjacke enger um sich, als sei ihr mit einem Mal kalt. »Sie war so hübsch und so begabt. In der Schule gehörte sie zu den Besten, und dann auf einmal, aus heiterem Himmel schließt sie sich diesen Punks an … In der Pubertät machen die Kinder ja häufig Probleme, aber Hermi hat es übertrieben.« Renates Schultern stiegen hoch und fielen mit dem Seufzer wieder herab.
»Meine Mutter war eine gute Schülerin?« Oma hatte immer gesagt, sie habe reihenweise Fünfen geschrieben und sei ein stinkfaules Luder gewesen, das nichts als Jungs und Klamotten im Kopf gehabt habe.
»Das war sie, und dann hat sie die Schule verlasen. Ohne Abschluss. Mit sechzehn. Ich habe deiner Oma versucht das auszureden. Aber sie hat ja nie auf jemanden gehört.«
»Oma? Oma hat meine Mutter nicht weiter zur Schule gehen lassen?« Vicki war sich nicht sicher, ob sie das richtig verstanden hatte. Ihr hatte Oma ständig in den Ohren gelegen, wie wichtig ein guter Schulabschluss und eine Ausbildung seien, hatte ihr richtig im Nacken gesessen und mit ihr gebüffelt, damit sie in der vierten Klasse den Übertritt aufs Gymnasium schaffe.
Renate erzählte, dass Traudl, Vickis Oma, Hermi von der Schule genommen hatte, als die Schwangerschaft nicht mehr zu vertuschen gewesen war. Renate hatte es nicht verstanden. Es waren nicht die prüden fünfziger Jahre, sondern die Achtziger. Eine Teenagerschwangerschaft war zwar nicht das, was man sich als Mutter für sein Kind wünschte, aber es war auch keine Schande. »Du weißt ja, wie deine Oma war«, fuhr Renate fort. »Konservativ bis in die Knochen und stur wie ein Maulesel. Als Hermi sich geweigert hat, eine Ab…« Renate sah erschrocken hoch. »Entschuldige. Es tut mir leid. Das hätte ich jetzt nicht …«
»Oma wollte, dass ich abgetrieben werde?« Plötzlich fragte Vicki sich, ob es wirklich eine ihrer schlaueren Ideen gewesen war, hierherzukommen und in der Vergangenheit herumzustochern. Vermutlich nicht. Oma hatte sie also auch nicht gewollt! Toll!
Fahrig begann Renate die Kuchenkrümel auf ihrem Teller zu einem Häufchen zusammenzufegen. »So hat Traudl das nicht betrachtet. Zu Beginn ist das nur ein Zellhaufen, hat sie gesagt, die Option eines Menschen … Sie hatte Angst vor der Schande und die Sorge, dass Hermi sich ihre Zukunft verbauen würde.«
»Geht’s noch? Oma hat sie von der Schule genommen. Sie hat ihr die Zukunft vermasselt.« Vicki wusste selbst nicht, weshalb sie sich plötzlich auf die Seite ihrer Mutter stellte.
»Ganz so einfach war das nicht. Wie hätte Hermine denn mit einem Baby die Schule weiter besuchen und das Abitur machen sollen?«
»Na, mit Omas Hilfe. Später hat sie sich ja auch um mich gekümmert.«
Renate lächelte. »Als du dann geboren warst, war Traudl ja auch vom ersten Tag an in dich vernarrt. So vernarrt, dass sie bereit gewesen wäre, sich ganz um dich zu kümmern. Sie wollte sogar das Sorgerecht und ist deswegen vor Gericht gezogen.«
Vicki wurde das langsam zu viel an Information. Erst hatte Oma gewollt, dass ihr Enkelkind abgetrieben wurde, und dann, als es da war, wollte sie
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