So unselig schön
Mutter. Übrig blieben Ruhe und die neue, unbekannte Kraft in ihr. Bevor sie zu Bett ging, warf Vicki noch einen Blick ins Terrarium. Epiktet schlief.
***
Und diese Einsamkeit, die alles übersteigt …
Er stand mit zusammengekniffenen Augen vor der Staffelei, während er diese Worte lautlos formte.
Ein paar Tage noch und das Bild würde vollendet sein. Die Gestalt kam ihm so vertraut vor, als wäre er unzählige Male von ihrer Hand berührt worden, als hätte er ihren Körper an seinem gespürt. Haut an Haut. Bei diesem Gedanken fühlte er Hilflosigkeit in sich aufsteigen, und seine Hand begann kaum merklich zu zittern, wie das Laub der Bäume, das ein Beben ankündigte.
Wer war diese Frau, die er da malte? Was versuchte er damit zu bannen? Er war sich selbst ein Rätsel, hasste und verabscheute den anderen in sich, der doch kein Fremder, sondern ein Teil von ihm war. Er war zwei und doch eines. Ein Monster und ein Mensch. Er widerte sich an und hoffte, dass das nun ein Ende haben würde. Wenn das Bild endlich fertig wäre. Dieses Bild.
Dieses Gedicht.
Seit er es als Siebzehnjähriger gelesen hatte, hatte es ihn in Bann geschlagen wie kein anderes, obwohl er sie alle gelesen, ja verschlungen hatte.
Jahrelang hatte die Vorstellung allein ihn besänftigt, das Sichausmalen dessen, was er tun könnte. Bis dann diese Bilder mit aller Kraft in die Wirklichkeit zu drängen begannen, bis der Andere in ihm die Oberhand gewann und in die Tat umsetzte, was er sich bis dahin immer nur vorgestellt hatte.
Charles Baudelaire. Sein Bruder im Geiste, sein Seelenverwandter. Ein Vertriebener. Ein Ausgestoßener. Ein aus dem Paradies Verjagter. Einer, der von der verbotenen …
Die Hand zitterte nun so, dass sie den Pinsel nicht mehr halten konnte. Er fiel zu Boden, kullerte ein Stück weit und hinterließ eine rote Spur wie sengendes Magma.
Die Gedanken und Träume der letzten Tage … die Erinnerungen … die Bilder … woher kamen sie? Welchen dunklen Verliesen entstiegen sie? Nach all den Jahren des Vergessens! Weshalb jetzt?
Wie gelähmt stand er vor der Leinwand und starrte auf diese schmalen Finger. Zartgliedrig, weiß, wie kalter Stein. Und doch schienen sie zu leben, sich zu bewegen, ihn zu berühren.
Ein Keuchen entstieg seiner Brust.
Er spürte die Schläge wieder, sah diese Hand, die ihn sonst gestreichelt und berührt hatte, wo er nicht hatte berührt werden wollen, sah ihre Augen mit dem sonst so zärtlichen Blick, sah ihren Mund, der sonst angenehme Worte formte und nun brüllte, sah die Lippen, so rot wie Blut, und erkannte, wer sie war.
Jede Pore seiner Haut zog sich zusammen, als wäre er in Eiswasser gestürzt. Für einen Moment nahm ihm der Schmerz den Atem. Er rang nach Luft, ließ sich in den abgewetzten Sessel fallen, versuchte den Zustand des Vergessens wieder zu erreichen, wie einen Rettungsring, den die Strömung immer weiter von ihm wegtrieb. Währenddessen schoben sich die Erinnerungen unaufhaltsam in sein Bewusstsein. Ihrem Anbranden hatte er nichts mehr entgegenzusetzen. Die Nacht wurde dunkler, die Sterne am Himmel klarer und heller.
Welch eine Charade hatte er mit sich getrieben! Ein grausames Versteckspiel. Er wollte schreien, doch der Schrei blieb in ihm stecken, dehnte sich, weitete sich, füllte seinen Brustkorb wie glühendes Gestein tief unter der Erde eine Kammer, bis er sich endlich löste, ausbrach, sein Brüllen jede Faser seines Körpers erbeben ließ und durch das Atelier hallte, wie eine alles vernichtende Urgewalt.
M ITTWOCH , 16. J UNI
Dühnfort stand in Fuhrmanns Wohnzimmer, schlug den Band mit Baudelaires Gedichten zu und stellte ihn zurück ins Regal. Das Buch war über zwanzig Jahre alt, aber selten zur Hand genommen worden, der Rücken noch steif, die Seiten sperrig.
Wir werden hier nichts finden, dachte er. Und wenn, dann sind diese Beweise vielleicht fingiert. Weshalb glaubte er Fuhrmann?
Gina trat zu ihm. »Sieh dir das mal an. Das lag im Müll.« In der Hand hielt sie eine Supermarkttüte, deren Inhalt sie nun auf den Couchtisch kippte. Zum Vorschein kamen Stoffstücke in allerlei Farben. Es dauerte einen Moment, bis Dühnfort erkannte, dass es sich um zerschnittene Wäschestücke handelte: Höschen, Hemdchen, Tangas, BH s, Bustiers, halterlose Strümpfe.
Er bat Verena Fuhrmann, die mit dem Rücken zum Raum am Fenster stand, an den Tisch zu kommen. Der Anblick der Wäschestücke schien sie nicht zu überraschen. »Sind das Ihre Dessous?«
»Es waren meine
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