So unselig schön
kochen, sich unterhalten und dabei eine Flasche Merlot trinken. Er wollte nicht auf ewig allein in seiner Wohnung sein, dieser Wohnung mit der Aussicht auf den Friedhof und seine zerbröselnden Grabsteine und Marmorengel, einem Blick in eine Zukunft, die jedem gewiss war. Auch ihm.
Gina musterte ihn, als spüre sie, dass er noch etwas sagen wollte. Noch vor ein paar Tagen hätte er sie einfach bitten können, den Abend gemeinsam zu verbringen. Doch ihre Worte vom Freitagabend schoben sich langsam, aber stetig wie ein Keil zwischen sie, verdrängten die Freundschaft, die sie bisher verbunden hatte, schafften Platz für etwas Neues, von dem er nicht wusste, was es sein würde.
***
Renate legte die Hände in den Schoß. »Ich verstehe Traudl nicht. Weshalb hat sie dir das verheimlicht?«
Vickis Herz klopfte noch immer zu schnell, und gleichzeitig stieg eine heiße Welle in ihr auf. Wut. Wut auf Oma, die sie angelogen hatte, die ihre eigene Tochter im Stich gelassen und Lügen über sie verbreitet hatte. Die ihrem eigenen Kind das Kind hatte wegnehmen wollen. »Keine Ahnung. Vielleicht wollte sie nicht, dass ich meinen Vater finde und dann vielleicht zu dem will.« Sie spürte, wie sich ihre Kehle zuschnürte. »Wer ist er? Weiß er, dass es mich gibt?«
»Vermutlich nicht. Die Beziehung zwischen ihm und Hermi hat nicht gehalten. Er hat wegen eines anderen Mädchens mit ihr Schluss gemacht, bevor Hermi merkte, dass sie schwanger war. Ihr Stolz hat sie daran gehindert, es Alex zu sagen. Und deiner Oma war das ganz recht so. Je weniger davon wussten, umso besser.«
»Alex heißt er also.« Schöner Name, dachte Vicki. Alex. Sicher Alexander. Sie hatte einen Vater, war nicht das Ergebnis eines bezahlten Ficks und eines geplatzten Kondoms. »Hat er auch einen Nachnamen? Wie hat Hermi ihn kennengelernt? War er an derselben Schule?«
Ein Lächeln erschien auf Renates Gesicht. »Tausend Fragen. Sein Name ist Alexander Sauer. Er war eine Klasse über Hermi und flog von der Schule, kurz nachdem die beiden sich verliebt hatten. Nicht, weil er Punker war. Ein sehr farbenprächtiger übrigens, sondern wegen der Anzahl der Verweise, die er bekommen hatte. Er war nicht gerade der nette Junge, den eine Mutter sich als Freund ihrer Tochter wünscht. Aber Hermi fand ihn toll. Cool, hat sie immer gesagt. Alex ist voll cool. Er hatte sich eine Sicherheitsnadel durchs Ohrläppchen gebohrt, trug eine Rasierklinge um den Hals und zerrissene Hosen. Seine Haare waren bunt gefärbt, wie das Gefieder eines Gockels, und mit Haarspray und Gel zu einem Kamm gestylt. Hermi, die bis dato nie etwas Verwegeneres als gestreifte Jeans getragen hatte, schnitt sich damals Löcher in ihre Hosen, färbte sich die Haare grün und durchbohrte sich einen Nasenflügel mit einer Sicherheitsnadel. Sie sah zum Fürchten aus. Traudl war verzweifelt.« Renate stützte das Kinn in die Hand und schüttelte den Kopf. »Obwohl ihr dieser Rebellenlook eigentlich ganz gut gestanden hat«, fügte sie versonnen hinzu. »Ich habe Traudl geraten, Hermi sich austoben zu lassen. So etwas vergeht meist von alleine. Wenn sie nicht so dagegen gewesen wäre … wer weiß, vielleicht wäre alles anders gekommen. Aber so hat sie Hermi erst recht angestachelt, diesen Punkerlook auf die Spitze zu treiben und sich an Alex zu klammern. Bis ihm das dann zu eng geworden ist und er sich eine neue Freundin gesucht hat.«
»Hat er echt nie erfahren, dass Hermi schwanger war?«
»Soweit ich weiß, nicht. Ich habe allerdings nicht mehr viel davon mitbekommen. Hermi ist ausgezogen, und Traudl hat mit ihr gebrochen, kurz nachdem das Gericht das Sorgerechtsersuchen abgelehnt hat. Beinahe fünf Jahre lang hat Traudl nicht mit Hermi gesprochen, und kaum über sie.« Renate strich sich mit einer Hand über den Oberarm. »Weshalb hat sie dir das alles nie erzählt?« Ein ratloses Schulterzucken folgte. »Vielleicht wollte sie ja damit warten, bis du groß genug bist.«
Sicher nicht, dachte Vicki. Sie hat ja über Hermi geredet, aber lauter Mist, verdammten Mist, wenn Renate die Wahrheit erzählt hatte. Sie hatte ihre eigene Tochter schlechtgemacht, um nicht als Versagerin dazustehen. Dieses schreckliche Kind. Da war ich machtlos. Irgendwann muss man als Mutter auch loslassen können. Und dann hatte sie beweisen wollen, dass sie die bessere Mutter ist, und Vicki zu sich holen wollen. »Du hast vorher gesagt, Oma hat noch einmal versucht, das Sorgerecht für mich zu bekommen. Das hat sie aber
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