So unselig schön
für mich auf eine Schuldverschiebung hin, weg vom Täter, der keine Verantwortung tragen will, zum Opfer. Der Klassiker bei Vergewaltigungen und sexuell motivierten Tötungen: Sie hat es selbst so gewollt; sie hat es nicht anders verdient. Doch warum trägt sie die Schuld? Auch darauf finden sich Hinweise im Gedicht. Er schreibt von schuldbeladenem Glück, wirft die Frage auf, ob sie sich dem Überdruss verworfner Wünsche hingab. War sie untreu? Oder hat sie ihn zurückgewiesen? Verbirgt sich dahinter das Motiv? Eifersucht und Rache, getarnt als fürsorgliche Entrückung, erscheinen mir am wahrscheinlichsten. Baudelaire wirft die Frage nach einem rachsüchtigen Mann auf, des nimmersatte Triebe, sie lebend nicht gestillt und der auf ihren toten Leib das Übermaß der Liebe gehäuft und angefüllt .« Beatrice Mével suchte Dühnforts Blick. »Sie sind sicher, dass die Taten nicht sexuell motiviert sind? Einen nekrophilen Täter schließen Sie aus?«
»Es gibt keine Hinweise darauf.« Die Puppe in der Puppe, dachte Dühnfort. »Was meinen Sie mit fürsorglicher Entrückung?«
»Gelegentlich wechselt Baudelaire die Perspektive und schreibt aus der Sicht des Täters. Beispielsweise im vorletzten Vers. Er fragt nicht, sondern konstatiert: Ruh aus, der Welt entrückt, fern ihrem Spott und Grolle und strengem Richterstab, in Frieden ruhe aus, du fremd Geheimnisvolle im wunderlichen Grab. Hier weiß er etwas, das er als Betrachter nicht wissen kann, nur als Beteiligter, nämlich einen möglichen Grund für die Tötung: Spott und Groll. Vermutlich Spott und Groll, denen ein gehörnter Gatte, betrogener Liebhaber oder zurückgewiesener Verehrer ausgesetzt war, der sich nun zum Richter aufgeschwungen und das Urteil auch vollstreckt hat. Ein Mord aus Eifersucht und gekränkter Eitelkeit, getarnt als fürsorgliche Entrückung in eine andere Welt, in der die Frau nun in Frieden ausruhen kann.«
»Weshalb beschreibt er sie als fremd Geheimnisvolle ?«, fragte Dühnfort. »Ist sie ihm wirklich fremd? Stirbt sie stellvertretend für eine andere?«
»Möglich. Ich würde Ihnen allerdings raten, nicht allzu sehr in diesem Gedicht nach der Motivation zu forschen. Vielleicht hat es für den Täter nicht die tiefe Bedeutung, die Sie vermuten. Er hat es irgendwann einmal gelesen und seine Tötungsphantasie daraus abgeleitet, die er nun umsetzt. Das ganz banale Böse.«
Dühnfort glaubte das nicht. Seit mindestens sechs Jahren spukte es im Kopf des Täters herum, schrie nach Verwirklichung. Es war mehr als nur oberflächliche Blaupause. Diese Worte hatten den Dämon in ihm jahrelang in Schach gehalten. Vermutlich konnte er es im Schlaf aufsagen, kreisten seine Gedanken immer wieder um diese Verse, um die Vorstellung, dieses Bild Gestalt annehmen, wirklich Bild werden zu lassen.
Dühnfort erinnerte die Psychologin an den Farbrest an Nadines Handgelenk. »Wir gehen davon aus, dass er es tatsächlich malt. Sind dafür Talent und eine entsprechende Ausbildung erforderlich, oder ist das eine Frage der Selbsteinschätzung? Würde ihm auch ein Gemälde in der Qualität genügen, wie die meisten von uns es zustande brächten?«
»Akademischer Maler oder Hobbykünstler?« Die Psychologin wickelte den Bogen Papier zu einer Rolle und drehte diese zwischen den Fingern. »Schwer zu sagen. Er ist Perfektionist, plant sehr genau, führt akribisch aus … das Gemälde stellt eine Erweiterung des Gedichts dar. Dafür müsste es ähnliche Qualitäten haben. Ich denke, Sonntagsmalerfähigkeiten werden dem Täter nicht die ersehnte Befriedigung liefern.«
***
Voller Unruhe wartete Vicki die Mittagspause ab. Als endlich auch Clara gegangen war, startete sie den Internetbrowser und durchsuchte die Homepages der Münchner Zeitungen.
Seit sie am Morgen auf dem Weg zum Reisebüro die Headlines gelesen hatte, war sie ganz hibbelig. Eine weitere Frau war ermordet worden. Wenn sie das Bild früher an Gina Angelucci gemailt hätte … vielleicht wäre das dann nicht passiert. Ihr war beinahe schlecht, als sie SZ -online öffnete.
Sie fand sofort, wonach sie suchte. Der Hund eines Joggers hatte die Leiche einer Prostituierten in der Nähe des Speichersees entdeckt. Die Frau war enthauptet worden, genauso wie die in der Brauerei. Bei beiden Leichen hatte man einen halterlosen rosa Strumpf gefunden und bei der zweiten auch Teile eines Schmuckstücks im Haar. Die Polizei bat um Mithilfe der Bevölkerung. Ein Foto zeigte zwei Strümpfe und zwei Strumpfbänder,
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