So unselig schön
darunter befand sich eine Liste mit den verschwundenen Kleidungsstücken der Frauen. Wer Angaben zu diesen Gegenständen machen konnte, sollte sich bei der Polizei melden. Eine Nummer war angegeben.
Wäre das vielleicht nicht passiert, wenn sie alle Fotos sofort der Polizei übergeben hätte? Vicki stützte den Kopf in die Hände und starrte auf den Bildschirm. Dühnfort hatte nichts weiter von sich hören lassen. Vielleicht war das Foto ja doch unwichtig. Gedankenverloren starrte sie auf die Website.
Bekannter Schönheitschirurg verhaftet. Sie klickte diesen Artikel an und überflog ihn eilig. So wie es aussah, hatte die Polizei den Mörder gefasst. René F. war gestern festgenommen worden; zurzeit wurde sein Haus durchsucht. René F.? René, so hieß doch der Freund von Jobst, der Schönheitschirurg war. René und wie noch? Fuhrmann. Hatte Jobsts Freund etwa die beiden Frauen umgebracht? Wusste er schon davon? Eine Welle von Mitgefühl erfasste Vicki. Der beste Freund vielleicht ein Mörder, ein Mensch, dem Jobst vertraut hatte, um den er sich echt gesorgt und den er getröstet hatte …
An Jobst wollte sie jetzt eigentlich gar nicht denken. Sie hatte einfach keinen Plan, wie man sich nicht verliebte. Aber die Schmetterlinge schwirrten noch immer in ihrem Bauch. Wenn sie die Augen schloss, sah sie das Grübchen an seinem Kinn, schmeckte seinen Kuss, der wie ein Versprechen gewesen war.
Vicki stand auf, ging in die kleine Küche und holte einen Becher mit Pfirsichkefir aus dem Kühlschrank. Ihr Mittagessen. Vielleicht hatte der zwischen all den Schmetterlingen noch Platz.
Wenn Jobst nicht ständig nachgefragt hätte, hätte sie all die Dinge über ihre Vergangenheit nie erfahren. Und auch seinen Rat, nach schönen Erinnerungen Ausschau zu halten, hatte sie inzwischen beherzigt. Gestern Nacht, kurz vor dem Einschlafen, war ihr das Bilderbuch wieder eingefallen, das Hermi selbst gezeichnet hatte.
Sie hatte sich oft Quatschgeschichten ausgedacht, in denen ein kleiner Tiger und sein Freund, ein kleiner Bär, Unfug trieben. Sie rührten auf dem Küchenboden Eierpampe an und schlidderten darin herum, schmierten der Lehrerin Honig auf den Stuhl, klauten die Äpfel vom Baum des Nachbarn und banden stattdessen Birnen daran. Die Geschichte mit dem Apfel-Birnbaum hatte Hermi aufgeschrieben und illustriert. Eines Abends beim Schlafengehen hatte Vicki das Heft unter der Bettdecke gefunden. Wo es wohl abgeblieben war?
Nachdem sie den letzten Rest Kefir aus dem Becher gekratzt hatte, warf sie ihn in den Mülleimer und ging zurück an ihren PC .
Keine Ahnung, wo das Bilderbuch hingekommen war. Aber das war auch nicht wichtig, die Erinnerung genügte. Hermi hatte sich bemüht, eine liebevolle Mutter zu sein, und war das irgendwie auch gewesen. Einerseits. Andererseits hatte es auch die Hermi gegeben, die ihre Tochter nachts alleine in der Wohnung ließ, die keine Wäsche wusch, nicht kochte, einkaufte oder putzte, die sie manchmal hungern und immer mehr verwahrlosen ließ.
Vicki wusste nicht, weshalb sie all die Jahre dieses einseitige Bild ihrer Mutter gepflegt und die schönen Erinnerungen ausgeblendet hatte. Irgendwie war es so einfacher gewesen, auf Hermi wütend zu sein. Doch nun hatte sich alles geändert. Dank Jobst.
Zeit, ihm die große Neuigkeit zu erzählen. Vicki griff zum Telefon und wählte seine Nummer. Sein Handy war ausgeschaltet. Also rief sie bei Katja Schön an und erfuhr, dass Jobst in einem Meeting war, das sicher noch Stunden dauern würde. »Ich kann ihm ein Memo schreiben, dass er Sie zurückrufen soll.«
Vicki wollte ihm keine SMS schicken. Was sie zu berichten hatte, benötigte mehr als die paar Zeichen, die in eine Kurznachricht passten. Daher nahm sie Katja Schöns Angebot an.
Ihr Blick fiel wieder auf den Monitor. René Fuhrmann. Sie klickte die Seite weg, rief stattdessen die von stalkerati.de auf und gab den Namen Alexander Sauer ein.
***
»Nix. Nothing. Niente.« Gina lehnte in der offenen Tür zu Dühnforts Büro. Alois saß auf der Kante des Besprechungstischs. »Trotzdem. Er war es. Wir müssen nur noch herausfinden, wo er sein Schlachthaus hat. Und deshalb werde ich jetzt Leyenfels aufsuchen. Fuhrmann hat nämlich ein Bootshaus am Ammersee.« Gina hob einen Schlüssel hoch und ließ ihn am Zeigefinger baumeln. »Und das sollten wir uns schnellstmöglich ansehen.«
Es gab also keine Spuren in Fuhrmanns Haus und auch nicht in der Praxis, was Dühnfort nicht wirklich überraschte. Er
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