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So unselig schön

So unselig schön

Titel: So unselig schön Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Löhnig
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wieder nicht geschafft, wenn …«
    Renates Stirn zog sich zu Falten zusammen. »Doch. Beim zweiten Mal hat sich das Jugendamt auf Traudls Seite gestellt, und das Gericht hat dem Ersuchen stattgegeben. Hermi war alkohol- und tablettenabhängig. Sie hat dich verwahrlosen lassen, und in der Wohnung sah es aus … Na, das muss ich dir ja nicht beschreiben. Daran wirst du dich sicher noch erinnern. Sie war nicht in der Lage, dich ordentlich zu versorgen, und deine Einschulung stand bevor. Es war höchste Zeit, die Weichen in eine andere Richtung zu stellen, dir eine Zukunft zu geben.«
    »Ich wäre also sowieso zu Oma gekommen, auch wenn Hermi auf dieser Berghütte …« Ein Klumpen saß in Vickis Hals und ließ sich nicht runterschlucken. »Wieso ist sie überhaupt mit mir zu dieser Hütte aufgestiegen? Was wollte sie da?«
    Renates flinke Augen bekamen einen traurigen Glanz. »Hermi wollte dich nicht hergeben und ist mit dir … geflohen. Ja, so kann man das sagen. Geflohen. Sie hat einen Rucksack voll Sachen gepackt und ist mit dir abgehauen, ein paar Stunden bevor Jugendamt und Polizei dich aus der Wohnung geholt hätten.«
    Eine schwache Erinnerung an jene Nacht stieg in Vicki auf. Es war dunkel gewesen, als Hermi sie geweckt und gesagt hatte, sie würden zu einem Abenteuer aufbrechen. Am Hauptbahnhof stiegen sie in einen Zug und kamen bei Sonnenaufgang in den Bergen an. Vicki hatte sie nie zuvor gesehen. Hermi sagte, es seien schlafende Riesen. Irgendwo stiegen sie dann aus, und Hermi fragte in einem Laden nach der Hütte.
    »Und den Rest kennst du ja. Hermi kannte unsere Hütte, wir waren ein paarmal mit ihr dort gewesen, als sie vierzehn oder fünfzehn war. Dorthin ist sie mit dir geflüchtet. Sie hat es immer nur gut gemeint mit dir, wollte dein Bestes, auch wenn sie dabei völlig versagt hat. Sie hat dich geliebt.«
    ***
    Epiktet zog den Kopf in den Panzer, um zu schlafen. Sollte ich auch versuchen, dachte Vicki. Doch sie wusste, dass es ihr nicht gelingen würde. Tausend Gedanken wirbelten durch ihren Kopf. Warum hatte Oma das getan? Sie hatte doch gewusst, wie sehr sie ihre Mutter liebte. Trotz allem. Alle Kinder liebten ihre Mütter. Verdammt! Das war nun mal so. Und dann hatte Oma sich geholt, was sie gewollt hatte. Vicki. Und hatte so die Chance ergriffen, es besser zu machen als Hermi. War ja auch gutgegangen. Jedenfalls so lange, bis Oma gestorben war. Danach hatte Vicki genau das getan, was ihre Mutter getan hatte, hatte die Schule geschmissen und … halt. Oma hatte Hermi von der Schule genommen. Oma hatte … Es war müßig, sich den Kopf zu zerbrechen. Nichts war mehr zu ändern, und doch hatte sich alles geändert. Sie hat dich geliebt. Das hatte Renate gesagt. Deswegen waren sie zu dieser Hütte aufgestiegen, auf der Flucht vor Oma, der Polizei und dem Jugendamt. Wenn Oma nicht … Mist! Das mit dem goldenen Schuss konnte ja auch nicht stimmen. Hermi war alkohol- und tablettenabhängig, hatte Renate gesagt. Von Heroin war nicht die Rede gewesen. Oma hatte immer vom goldenen Schuss gesprochen. Aber auf der Hütte hatte nichts herumgelegen, was nach Fixerbesteck ausgesehen hatte. Oder? Vicki versuchte sich an die Tage dort oben zu erinnern. Sie hatte alles nach etwas Essbarem durchsucht. Nein. Da war keine Spritze gewesen und auch kein angerußter Löffel oder so. Verdammt! Oma! Warum hast du das getan?
    Wenn sie zu Hermi gehalten und ihr geholfen hätte, wäre das alles nicht passiert.
    Vicki schloss den Glasdeckel des Terrariums. Irgendetwas in ihr hatte sich verändert, verschoben, war an einen neuen Platz gerutscht und saß in ihr wie ein warmer Kern, der Kraft und Ruhe aussandte. Sie hat dich geliebt.
    Wenn nicht Jobsts ständige Provokationen die Erinnerungen an die Berghütte in ihr nach oben gespült hätten, wäre sie nie zu Renate gegangen, um sie nach der Hütte zu fragen. Wer weiß, wann und ob sie jemals die Wahrheit erfahren hätte. Danke, dachte sie. Danke, Jobst.
    Am liebsten wäre sie sofort zu ihm geradelt, um ihm zu erzählen, was sie heute alles erfahren hatte. Doch sie wollte dieses wohlige Gefühl in sich nicht vertreiben und setzte sich in den Korbsessel am Fenster. Über Jobst und wie es mit ihnen weitergehen sollte, würde sie morgen nachdenken.
    Die Sonne war schon untergegangen, ein silberner Schimmer lag über der anbrechenden Nacht. Vicki beobachtete, wie es dunkler wurde und der Mond aufging. Langsam schwand die Wut auf Oma, ebenso wie der lange gehegte Groll auf ihre

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