So unselig schön
beherrschte ihn der Wunsch, sie einfach abzufertigen, wegzuschicken, ihr zu sagen, dass sie alleine die Vorlage für die Morde entdeckt hatten.
Er bat sie in sein Büro, bot ihr Platz an und setzte sich hinter seinen Schreibtisch.
Ihr Blick wanderte durchs Zimmer, blieb an der Espressomaschine hängen – es war dasselbe Modell, das sie besaß – und kehrte dann zu ihm zurück. Sie legte das Buch auf den Tisch. »Heute Morgen habe ich in der Zeitung von diesen Mordfällen gelesen und von den rosafarbenen Strümpfen, die bei den Opfern gefunden wurden. Ich bin mir nicht sicher. Aber es würde passen. Baudelaire beschreibt in einem seiner Gedichte die enthauptete Leiche einer Frau. Sie trägt einen rosa Strumpf. Es könnte doch sein, dass der Mörder durch dieses Gedicht inspiriert wurde.«
Die Gefühle, die sie bei ihm auslöste, verwirrten und verärgerten Dühnfort im selben Maß. Dieser leicht unsichere Ton, der sich so häufig bei ihr einschlich, und diese kaum wahrnehmbare Fahrigkeit waren nur Facetten einer viel komplexeren Persönlichkeit. Verliebt hatte er sich in die starke Frau, die sich nach dem Tod ihrer Tochter und ihres Mannes aufgerappelt und begonnen hatte, ihr Leben neu zu sortieren. Sie ließ sich nicht beirren und nicht unterkriegen, ohne sich dabei der eigenen Stärke bewusst zu sein.
»Deine Idee ist nicht unsinnig. Wir gehen davon aus, dass dieses Gedicht die Vorlage für die Morde ist.«
»Oh. Da war jemand schneller als ich.«
Sie griff nach dem Band, als wolle sie gehen.
»Wir haben es selbst herausgefunden. Schließlich hast du mir letzten Herbst einige Zeilen aus dem Gedicht gemailt – An eine, die vorüberging .«
Sie schob den Stuhl zurück und stand auf. »Mich hat damals überrascht, dass du das herausgefunden und den Band gekauft hast.«
Er erhob sich ebenfalls. »Ich bin schließlich Polizist. Diese Ermittlung war nicht allzu schwer.«
»Deine Antwort war nicht ohne: Laß dies wüste Spiel zu Ende gehn. Sie hat weh getan. Ich habe nie Spielchen gespielt. Aber das weißt du ja.«
Er schämte sich noch heute für diese unbedachte und spontane Antwort. Zwei Gläser Wein waren keine Entschuldigung dafür.
»Schade, dass es so zu Ende gegangen ist.«
Der Schreibtisch stand zwischen ihnen. Er umrundete ihn und reichte ihr die Hand. »Ja. Das ist wohl so.«
»Du hast noch immer kalte Hände.« Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Mach’s gut, Tino.«
»Du auch.« Deine Hände sind so aufregend kühl. Das hatte sie beinahe jedes Mal gesagt, wenn er sie unter ihre Bluse hatte gleiten lassen.
Warum war sie gekommen? Ein Anruf oder eine Mail hätten genügt. Sie war schon bei der Tür. »Ach, Agnes. Eine Frage. Weißt du, weshalb Baudelaire derartig düstere Gedichte geschrieben hat? Kennst du dich in seiner Biographie aus?« Lyrik war ihre große Leidenschaft.
»Ich habe sie vor Jahren gelesen. Soweit ich weiß, hatte er eine unglückliche Kindheit. Wenn es dir weiterhilft, könnte ich das nachlesen.«
»Ja. Das würde es. Hast du denn Zeit?«
Sie nickte. »Ich rufe dich an.«
***
Stalkerati half ihr nicht weiter. Vicki gab es auf, sich durch die umfangreiche Trefferliste zu klicken. Das musste irgendwie anders gehen.
Das Telefonbuch. Sie rief die Website einer Telefonauskunft auf, gab den Namen ihres Vaters ein und einen Umkreis von fünfzig Kilometern um München. Einen Augenblick dachte sie, dass er vielleicht längst nicht mehr hier lebte oder tot war oder den Namen seiner Frau angenommen hatte. Das gab es schließlich. Aber ihr Vater war Punker! Keiner, der heiratete, und wenn, dann legte er garantiert nicht seinen Namen ab.
Vicki drückte auf die Return-Taste. Eine kurze Liste erschien. Zwei Einträge in München, drei im Landkreis. Sie druckte alle Treffer aus, faltete den Papierbogen zusammen und schob ihn in den Rucksack. Das musste bis heute Abend warten.
Clara wirkte angestrengt und genervt. Sie beriet seit einer Stunde einen Kunden, der eine Pauschalreise buchte, aber tausend Extras wollte und nun gottlob am Ende angekommen war, denn er zückte die Kreditkarte. Henriette war noch immer krankgeschrieben. Der verknackste Knöchel hatte sich als Bänderanriss entpuppt. Steffen tütete gerade das monatliche Kundenmailing ein.
Vicki war durstig. Sie ging in die Küche und nahm ein Glas aus dem Schrank. Es dauerte ein Weilchen, bis das Wasser kalt aus dem Hahn lief und sie das Glas füllen konnte.
Das Bimmeln der Eingangstür ließ sie aufblicken. Der
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