So unselig schön
Flasche und schenkte sich ein Glas voll. Während er ein Käseomelett zubereitete, trank er das Glas leer und entspannte allmählich. Das Bild der kopflosen Leiche verblasste.
Als das Omelett fertig war, toastete er eine Scheibe Weißbrot, füllte das Glas erneut und trug sein Abendessen auf den kleinen Küchenbalkon.
Die Luft war lau und vom Frühsommerduft nach Blüten und Gräsern erfüllt. Drei Etagen unter ihm leuchteten einige ewige Lichter auf den Gräbern des Alten Südfriedhofs. In der Dunkelheit ahnte Dühnfort den Schattenriss des gesichtslos gewordenen Marmorengels, der dort Wacht am Grab eines im Jahr 1832 viel zu jung verstorbenen Musikers hielt.
Falls er vergangenen Oktober wirklich ertrunken wäre, wie würde wohl sein Grabstein aussehen?
Zügig leerte Dühnfort das Glas. Er wollte nicht daran denken, doch da waren sie wieder, diese Bilder. Seine Angst, seine Scham, bodenlos. Eilig stand er auf, ging in die Küche, schenkte sich nach und trank. Er sah wirbelnde Gischt, Blasen vor seinem Gesicht, spürte den Druck auf der Lunge, die Gier zu atmen, sah Ginas Schokoladenaugen, fühlte, wie ihn diese Kraft in die Tiefe zog, die Kälte, die sich in seine Glieder fraß, spürte den tobenden Schmerz im Arm. Und dennoch hatte er sich mit einer Kraft an Gina geklammert, die all sein Handeln auf einen Punkt fokussierte: Er wollte nicht sterben. Nicht so. Nicht jetzt. Er hatte sich an sie gekrallt, nicht losgelassen und sie mit in die Tiefe gezogen, bis er das Bewusstsein verloren hatte, bis auch sie ertrunken wäre – wenn nicht der Schorsch zur Stelle gewesen wäre, den irgendein Gott, an den Dühnfort noch immer nicht glauben konnte, geschickt hatte.
Er lehnte sich an den Kühlschrank und schloss die Augen. Diese Scham brannte in ihm. Gina hatte ihr Leben riskiert, und er hatte nicht gewusst, wann er loslassen musste, er hätte sie umgebracht, um sich zu retten.
Mit dem Glas in der Hand kehrte er auf den Balkon zurück, in die Dunkelheit. Er ließ den Kopf in den Nacken fallen, blickte in die klare Nacht, erkannte den Großen Wagen und Jupiter. Sie hatte nie ein Wort darüber verloren. Genau wie er. Und je länger er damit wartete, umso unmöglicher wurde dieses Gespräch.
D IENSTAG , 8. J UNI
Kurz nach Sonnenaufgang erwachte Dühnfort vom Zwitschern der Vögel, das aus den Bäumen des Friedhofs durchs offene Schlafzimmerfenster drang. Halb sechs. Sein Kopf fühlte sich wattig an, sein Mund trocken.
Da er ohnehin nicht mehr einschlafen würde, stand er auf, schaltete in der Küche die Espressomaschine an, holte die Packung mit Grapefruitsaft aus dem Kühlschrank und nahm ein Glas davon mit auf den Balkon.
Das Morgenlicht war noch fahl, versprach jedoch einen warmen und sonnigen Tag. Dühnfort trug nur Boxershorts und genoss die frische Kühle auf der Haut, die den letzten Rest von Müdigkeit vertrieb. Während er auf efeuüberwucherte Gräber blickte, leerte er das Saftglas. Auf der Bank am Wegrand, neben dem Grab des Musikers, schlief, in einen Schlafsack gewickelt, ein Penner. Seine in Plastiktüten verstauten Habseligkeiten hatte er zwischen sich und die Banklehne geklemmt. Absturzbedroht lag er auf der Seite.
Irgendwo wartete jemand auf eine junge Frau, die nie wiederkommen würde. Irgendwann in den nächsten Stunden oder Tagen, wenn sie die Tote identifiziert hatten, musste er an einer Tür klingeln und eine Todesnachricht überbringen.
Ein Flugzeug kratzte einen weißen Streifen in den Himmel, irgendwo bellte ein Hund. Im Haus schlug eine Tür. Dühnfort ging in die Küche, machte sich einen doppelten Espresso, den er mit dunklem Zucker süßte und im Stehen trank, bevor er unter der Dusche verschwand.
Als er kurz nach acht den Besprechungsraum zum Morgenmeeting betrat, schien die Sonne bereits herein und durchflutete das Zimmer, als wollte sie ihm zustimmen in seinem Glauben an Gerechtigkeit. Doch, es lohnte sich, dafür zu kämpfen, dass die andere Waagschale sich füllte, dafür, dass ein Ausgleich in Form von Strafe und Sühne hergestellt wurde und den Opfern Gerechtigkeit widerfuhr.
Dühnfort setzte sich an den ovalen Tisch zu Alois, der in Unterlagen blätterte. Vor ihm stand die obligatorische Thermoskanne mit grünem Tee. Gina lehnte mit einem Becher Kaffee in der Hand gähnend am geöffneten Fenster. Sie schien kaum geschlafen zu haben. Tiefe Schatten lagen unter ihren Augen. »Guten Morgen, Boss.«
Ich darf dieses Gespräch nicht länger hinauszögern, dachte er. Doch wann
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