So unselig schön
Sektionssaal. Am linken arbeiteten die Rechtsmedizinerin Claudia Michaelis und ihr Kollege Olaf Hingsen gemeinsam mit zwei Sektionsgehilfen an der inneren Schau der Leiche eines alten Mannes. Die Oszillationssäge sirrte, Befunde und Eindrücke wurden auf Band gesprochen, Gummistiefel quietschten auf dem Steinboden, OP -Leuchten erhellten die Arbeitsfläche.
Auf dem Tisch daneben lag die Leiche eines dicken Mannes in mittleren Jahren, noch unberührt und von einer Gruppe von Studenten umgeben. Professor Dr. Dr. Claudius Herzog gab einen Einführungskurs. Seine volle Stimme tönte durch den Saal.
Dühnfort erreichte den letzten Tisch, auf dem Körper und Kopf der unbekannten Schönen lagen. Ursula Weidenbach, ihr Kollege Thorsten Lieske und eine Sektionsassistentin waren bereits mit der äußeren Leichenschau beschäftigt. Weidenbach sprach die Beschreibung des Opfers in ein Diktiergerät, das sie bei dem Geräuschpegel, der im Saal herrschte, knapp vor den Mund hielt. »Etwa dreiundzwanzig bis fünfundzwanzig Jahre alt, 1 , 67 m groß, siebenundvierzig Kilo schwer, Mitteleuropäerin. Besondere Merkmale: Blinddarmnarbe, ein Muttermal auf der Innenseite des rechten Oberschenkels und eine sternförmige Tätowierung am linken Fußknöchel.«
Während Weidenbach sprach, entfernte Lieske die Plastikbeutel, mit denen die Hände der Toten vor dem Abtransport aus der Brauerei geschützt worden waren. Dabei bemerkte er Dühnfort und grüßte. Fehlte noch Christoph Leyenfels, der zuständige Staatsanwalt.
Wieder fiel Dühnfort die dunkle Haarpracht der Toten auf. So dunkel, so sauber. Wartete irgendwo ein Mann vergebens oder gar ein Kind? Wie sollte er ihren Eltern das beibringen?
Ursula Weidenbach trat neben ihn und zupfte die Latexhandschuhe zurecht. »Grüß Sie.« Ein Seufzer folgte. »So wie es aussieht, hat da jemand ganze Arbeit geleistet.«
»Ganze Arbeit? Was darf ich mir darunter vorstellen?«
Mit einer Geste gab sie ihm zu verstehen, ihr zu folgen. Er schob sich an Lieske, der mittlerweile die Fingernägel säuberte, und der Sektionsassistentin vorbei, näher an den Kopf der Toten heran.
»Sehen Sie?« Ein behandschuhter Finger deutete auf einige strichförmige Flecken am Hals. Hautvertrocknungen rechts und links des Kehlkopfs.
»Sie wurde erwürgt?«
»Sieht ganz danach aus.« Weidenbach zog eines der Augenlider herunter und die beleuchtete Lupe, die sich an einem Teleskoparm befand, darüber. Dühnfort erkannte die Einblutungen in die Bindehäute sofort. Typisches Anzeichen für Tod durch Erwürgen oder Erdrosseln.
»Es gibt noch eine Besonderheit.« Mit einer Pinzette wies Ursula Weidenbach an eine Stelle auf der linken Halsseite, knapp oberhalb des Stumpfs. »Sehen Sie diesen Schnitt?«
Eine schmale, klaffende Wunde, etwa fünf Zentimeter lang, an der getrocknetes Blut haftete. Eine fadendünne Spur zog sich diagonal über den Hals Richtung Hinterkopf.
Dühnfort richtete sich auf und sah Weidenbach an. »Wann wurde ihr diese Verletzung zugefügt?«
»Post mortem. Sonst wären Gesicht und Haar blutbesudelt. Der Täter hat unsere Schöne erwürgt, dann die Halsvene geöffnet und die Leiche ausbluten lassen. Das würde auch die ungewöhnlich schwach ausgeprägten Leichenflecke erklären. Ich wette, wir werden bei der inneren Schau kaum Blut finden.«
Dühnfort atmete durch und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Krank, dachte er. Wer so vorgeht, kann psychisch nicht gesund sein.
Ungerührt fuhr Weidenbach fort: »Erst danach wurde der Kopf abgetrennt. Der Täter hat durch Gewebe, Speise- und Luftröhre bis zu den Halswirbeln geschnitten, dann dort Sehnen und Muskeln durchtrennt und anschließend mit dem Messer die Wirbel auseinandergedreht. Das ist ein fachmännisches Vorgehen.« Ursula Weidenbach schob die Brille in die Haare. »Keine Ahnung, wie jemand ticken muss, der so etwas macht. Auf alle Fälle hat er gute anatomische Kenntnisse. Vielleicht ist er Arzt, möglicherweise sogar Chirurg.«
»Wie lässt man eine Leiche ausbluten? Der Kreislauf ist zusammengebrochen. Der Blutdruck bei null.«
»Nach Eintritt des Todes sind die Arterien leer, da die letzten Herzschläge das Blut in die Venen gepumpt haben, wo es relativ schnell gerinnt. Wer eine Leiche ausbluten lassen will, muss das in der ersten halben Stunde nach dem Exitus tun. Ich nehme an, der Täter hat die Leiche schräg gelagert, damit das Blut Richtung Kopf lief, und dann den Venenschnitt gesetzt. Daher auch diese Abrinnspur.«
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