So unselig schön
nicht mehr so sicher war wie am vergangenen Mittwoch. Es musste endlich etwas vorangehen in dieser festgefahrenen Ermittlung.
Die Schultern waren verspannt, wieder einmal war die Nacht zu kurz gewesen, und die Müdigkeit saß ihm in den Knochen. Er war nicht mehr dreißig, langsam begannen sich durchgearbeitete Nächte und Wochenenden bemerkbar zu machen. Für einen Moment sah er sein Leben zwischen diesen Mauern verrinnen, wie die Tropfen, die die Scheibe hinab über das Fensterbrett liefen und verschwanden. Dieser Gedanke erschreckte ihn. Er wandte sich vom Fenster ab. Dabei erinnerte er sich an Agnes’ Anruf vom Freitag und sein Versprechen, sich bei ihr zu melden. Hätte er sie angerufen, wenn er Zeit gehabt hätte? Vermutlich nicht. Er wusste jedoch nicht, weshalb, und hatte weder die Muße noch das Bedürfnis, darüber nachzugrübeln.
Knapp zwanzig Stunden waren vergangen, seit Daniela Heppner ihre Freundin vermisst gemeldet hatte, und bisher waren sie keinen Schritt weitergekommen. Weder die Verkehrsüberwachungsbänder noch die Handyortung hatten zu einem Ergebnis geführt. Halter und Vermieter von schwarzen Puntos wurden noch überprüft. Es gab einfach zu viele.
Die Tiefgarage des Ärztehauses hatte keine Videoüberwachung, daher hingen bereits in allen Praxen Plakate mit einem Zeugenaufruf. Möglicherweise hatte jemand eine Beobachtung gemacht, die im Zusammenhang mit dem Diebstahl der Nummernschilder stand.
Dühnfort sah einem Tropfen nach, der in der Regenrinne verschwand, streckte sich und verließ den Besprechungsraum. Was sie jetzt benötigten, war ein Durchsuchungsbeschluss für Lichtenbergs Anwesen. Je eher, desto besser. Doch dafür musste er das Ergebnis der Farbanalyse abwarten.
Auf dem Flur kam ihm Boos entgegen, der eigentlich am Morgenmeeting hatte teilnehmen wollen, aber in einem Stau steckengeblieben war. Folge eines umgestürzten Schweinetransporters auf der Autobahn. Er grüßte Dühnfort und folgte ihm ins Büro. Dem Wetter entsprechend trug er einen hellgrauen Baumwollrolli zur Edeljeans und ausnahmsweise keine Hosenträger. »Wie kommt ihr voran?«
»Zäh.« Sie setzten sich. Dühnfort brachte Boos auf den aktuellen Stand.
»Lichtenberg ist eine interessante Persönlichkeit«, meinte Boos. »Jemand, der sich neu erfindet, weil er den Menschen, der er ist, nicht ertragen kann. Wie sagte Sartre? Es ist eine maßlose Freiheit, zu töten, um sich selbst zu gebären.« Boos wollte die Daumen gewohnheitsgemäß in die Hosenträger haken, griff aber ins Leere und ließ die Arme sinken. »Er scheint ins Profil zu passen. Was mich allerdings stutzig macht, ist seine Erscheinung. Lichtenberg wirkt nicht unbedingt vertrauenerweckend. Wäre Nadine tatsächlich nach einem kurzen Gespräch zu ihm ins Auto gestiegen? Eher nicht. Ich denke, sie hat ihren Mörder gekannt, oder es ist ein Mann, zu dem sie Vertrauen fassen konnte, und zwar innerhalb von wenigen Augenblicken. Vielleicht aufgrund einer Uniform oder sonstiger Insignien. Sei es ein Pfarrer oder Polizist, Feuerwehrmann oder Arzt. Jemand also, der entsprechend gekleidet ist oder die passenden Requisiten im Fahrzeug hat und sie möglicherweise nutzt, um seine Opfer in die Falle zu locken. Es könnte sich aber auch um einen Prominenten handeln. Jemanden, den man aus der Zeitung oder dem Fernsehen kennt. Jana wurde Freitagnacht entführt, und sowohl der Mord an Svenja als auch an Nadine geschahen an einem Wochenende. Das stärkt unsere Annahme, dass der Täter an fünf Tagen in der Woche von nine to five arbeitet. Vermutlich ist er gesellschaftlich angepasst, unauffällig, der nette Nachbar, der hilfsbereite Kollege. Und das passt nicht so recht zu Lichtenberg.«
»Svenja und Jana waren, beziehungsweise sind, Prostituierte«, warf Dühnfort ein. »Vermutlich wären sie zu beinahe jedem Mann in den Wagen gestiegen. Jana könnte ihren Kunden gekannt haben. Sie ist, unmittelbar nachdem das Fahrzeug gehalten hatte, eingestiegen. Alois prüft gerade, ob Lichtenberg Kunde am Straßenstrich an der Schäftlarnstraße ist.«
Boos stützte die Ellenbogen auf und legte das Kinn auf die verschränkten Hände. »Ich habe mir die Obduktionsberichte angesehen und glaube, dass die erste Tat völlig schiefgegangen ist.«
»Wie kommst du darauf?«
»Für den Täter ist das Blut von hoher Bedeutung. Um daran zu gelangen, hat er bei der Ermordung Nadines ein ausgefeiltes Vorgehen an den Tag gelegt. Svenja dagegen wurde brachial mit fünf bis sechs
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