So unselig schön
will, dass ich dafür einen Antrag stelle. Formlos. Ich habe keine Ahnung, wie ich die Kosten am übersichtlichsten aufliste. Kannst du mir vielleicht dabei helfen?«
»Am besten legst du dafür eine Excel-Tabelle an. Ich zeige dir, wie das geht.«
»Jetzt gleich? Ist ja eh nichts los«, fragte Vicki.
Clara nickte. »Gib mir fünf Minuten, ich muss noch eine Mail verschicken. Das vollständige Berichtsheft will ich aber bis Mittwoch sehen. Und dann noch eine Frage: Also, das geht mich ja nichts an, aber du duzt dich mit Wernegg?«
»Das hat sich … so ergeben.« Vicki wollte darüber nicht groß reden. »Ich starte schon mal das Programm.«
Der Kellner hatte gestern gefragt, ob er Wein nachschenken solle. »Warum nicht?«, hatte Vicki gesagt, und Wernegg hatte sich ihr angeschlossen. Irgendwie hatte sich die angespannte Stimmung verzogen. Sie waren quitt, nachdem Wernegg Vickis Revanchewunsch nachgekommen war. »Nun wissen wir so viel voneinander, sollten wir uns nicht duzen?« Er sah sie offen und unbefangen an. In seinem Gesicht lag nicht die Spur von Anmache oder Überheblichkeit. Ein nettes und offenes Gespräch entspann sich, und irgendwann zwischen Entenbrust und Gateau au Chocolat erzählte Vicki ihm von ihrer Kindheit, dass sie keine Ahnung hatte, wer ihr Vater war, und es keine Chance gab, das jemals herauszufinden, und von ihrer unsäglichen Mutter, die sich nicht gekümmert und sie hatte verwahrlosen lassen.
Jobst schwieg, während sie einiges vom Müll ihrer Kindheit vor ihm auskippte, diesem Mann, der all die Mutterliebe bekommen hatte, die ihr so sehr gefehlt hatte. War sie eifersüchtig? Ja. Eifersüchtig und neidisch. Irgendwie.
Sein Schweigen und das Glas Wein förderten ihren Redeschwall. Bilder tauchten aus der Vergangenheit auf. Bilder, an die sie seit Jahren nicht gedacht hatte.
Eine rotwangige dicke Frau im Dirndl. Ein faltiges Dekolleté. Regale voller Konservendosen, Gläser und Tüten. Mit Süßigkeiten gefüllte Glasbehälter auf einem Tisch. Ein Geruch nach Kartoffeln und Essiggurken. Und Brot! Sie war so hungrig! Mami würde sicher etwas von diesem Brot mit der dunklen Kruste kaufen, das hinter einer Glasscheibe in der Theke lag. Vicki starrte darauf. Mami fragte nach einer Hütte, kaufte Zigaretten, eine Flasche Martini und für Vicki einen Mohrenkopf, dann gingen sie.
Vickis Worte versiegten, wie ein Bach, dessen Quelle urplötzlich erschöpft war. Für einen Augenblick nahm ihr ein dumpfer Druck den Atem, dann ging es wieder. »Du siehst, es hatte nicht jeder eine so tolle Kindheit wie du.«
Auf seinem Gesicht erschien ein Lächeln. »Nach Gold muss man schürfen. Wenn du es willst, wirst du auch schöne Erinnerungen finden. Jede Mutter liebt ihr Kind. Das ist ganz natürlich. Bestimmt hat sie mit dir gespielt und gebastelt, dir Lieder vorgesungen und Märchen erzählt, mit dir Ausflüge gemacht und dir das Radfahren beigebracht.«
In was für einer Welt lebte er denn? Vor gerade mal einer Stunde hatte er doch mit eigenen Augen gesehen, dass nicht alle Mütter ihre Kinder liebten. »Schwimmen. Das Schwimmen, das hat sie mir beigebracht. Indirekt«, hörte Vicki sich sagen. Verdammt, das hatte sie noch niemandem erzählt! »Vielleicht war die Methode etwas unkonventionell. Aber effektiv. Schneller als ich hat noch kein Kind kapiert, wie das geht.« Sie biss sich auf die Unterlippe, kämpfte diesen scheiß selbstmitleidigen Kloß hinunter, der sich in ihren Hals gesetzt hatte, versuchte ihrem Gesicht einen gleichgültigen Ausdruck zu verleihen und rammte die Kuchengabel in den Schokoladenkuchen.
Plötzlich sah sie seine Hand ihre umfassen. Sie starrte darauf, wollte sie empört wegziehen, doch es fühlte sich irgendwie richtig an. Der Impuls verlosch augenblicklich. Irritiert sah sie hoch. Sein Blick war freundlich, von ehrlichem Interesse. Vielleicht konnte sie es ihm erzählen. Sie entspannte sich etwas. »Ich war fünf. Meine Mutter hat sich mit Freunden am Feringasee zum Baden getroffen. Die hatten alle ihre Hunde dabei und meine Mutter mich. Gebadet wurde kaum. Sie saßen am Feuer, haben gesoffen und geraucht. Ab und an ist mal einer ins Wasser gehüpft. Jemand hatte eine Luftmatratze dabei und hat sie mir gegeben. Damit bin ich rausgepaddelt. Das hat Spaß gemacht. Bis ich an dem gelben Stöpsel gezogen habe. Ich weiß auch nicht, warum. Neugier oder so. Jedenfalls hab ich das Ding nicht wieder reingekriegt. Die Luft ging ratzfatz raus. Da habe ich halt Schwimmen
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