So unwiderstehlich reizvoll
Inneneinrichtung dagegen wirkte heruntergekommen. Der Stuck an den Decken bröckelte, und die schweren Tapeten lösten sich teilweise von den Wänden.
Dagegen war die Matratze überraschend bequem, und die blütenweiße Bettwäsche duftete nach Lavendel. Kein modernes Stück störte den Stil, die freistehende Badewanne besaß Löwenklauen, und die Toilette stand, wie früher üblich, auf einem kleinen Podest.
Juliet bemühte sich, den kommenden Tagen optimistisch entgegenzusehen. Wahrscheinlich war Lady Elinors Neugier bereits gestillt, und sie könnte sich die Zeit frei einteilen und vielleicht sogar Carys Auto leihen, um die Umgebung zu erkunden.
Aus den hohen Fenstern hatte sie einen herrlichen Blick auf die Flussmündung und das Meer. Es herrschte Ebbe, und im Schlick suchten Scharen von Vögeln nach Futter. Juliet bedauerte, lediglich Möwen und Strandläufer voneinander unterscheiden zu können. Für jemanden, der hier lebte, war es bestimmt interessant, sich mit den einzelnen Arten näher zu beschäftigen.
Da es erst halb fünf war und Juliet nicht bis zum Abendessen auf dem Zimmer bleiben wollte, entschloss sie sich, Josie zu suchen. Vielleicht konnte die Haushälterin ihr etwas über das Haus und seine Geschichte erzählen – oder über seine Bewohner. Vor allem über Raphael Marchese wollte sie gern mehr erfahren.
Vor dem Spiegel ihrer Ankleidekommode überprüfte sie ihr Aussehen. Seidenpulli und Leinenrock, alte Lieblingsstücke, die sie schon auf der Fahrt getragen hatte, wirkten immer noch adrett. So frischte sie lediglich ihr Augen-Make-up auf und zog die Lippen mit einem bronzefarbenen Stift nach.
Dass sie keine auffällige Schönheit war, wusste Juliet. Doch ihr herzförmiges Gesicht und der schön geschwungene Mund wirkten durchaus attraktiv. Glücklicherweise war ihr volles braunes Haar von Natur aus leicht gelockt und brauchte nach dem Waschen nur gebürstet zu werden, um gut zu sitzen. Es fiel ihr bis auf die Schultern und zeigte immer noch goldene Highlights, obwohl sie schon lange nicht mehr das Geld hatte, sich Strähnchen färben zu lassen.
Oder bekam sie etwa schon die ersten grauen Haare? Besorgt beugte sich Juliet vor, um ihr Spiegelbild besser betrachten zu können. Nach all dem, was sie mitgemacht hatte, wäre es kein Wunder gewesen.
Vorsichtig, um ja nicht gehört zu werden, schlich sie die Treppe hinunter und öffnete die Tür, die ihrer Meinung nach zur Küche führen musste. Wie gelähmt blieb sie auf der Schwelle stehen. An dem blank gescheuerten Holztisch saßen Josie und Raphael beim Tee.
Juliet wusste nicht, wer erstaunter war, Josie oder sie.
„Miss Lawrence!“ Die Haushälterin stand auf. „Ich wollte Ihnen gerade Ihren Tee bringen.“ Sie zeigte auf ein fertig gedecktes Tablett, auf dem nur noch die Kanne fehlte. „Wenn Sie nicht in Ihrem Zimmer bleiben möchten, soll ich Ihnen den Tee dann vielleicht lieber im Salon servieren?“
Sollte Juliets plötzliches Erscheinen auch Raphael überrascht haben, so zeigte er es nicht. Er stand auch nicht auf, sondern musterte sie lediglich aufmerksam über den Rand seiner Tasse.
„Könnte ich meinen Tee nicht hier in der Küche trinken? Zusammen mit Ihnen und – Mr. Marchese?“, bat Juliet schüchtern.
„Raphael“, bat er und stellte seine Tasse zurück auf den Tisch. Ihm lag nichts daran, diese junge Frau näher kennenzulernen, unhöflich wollte er jedoch auch nicht sein. „Ich glaube, Josie würde es lieber sehen, wenn Sie sich in den Salon setzten“, meinte er.
Tapfer hob Juliet den Kopf. „Und ich würde lieber hierbleiben“, erklärte sie. „Ist das ein Problem für Sie?“
„Sie stören uns wirklich nicht, Miss Lawrence“, versuchte Josie zu vermitteln. Die plötzliche Feindseligkeit zwischen den beiden gefiel ihr nicht. „Ich werde sofort den Kessel aufsetzen und Ihnen einen frischen Tee brühen.“
„Nicht nötig, vielen Dank, ich nehme den aus der Kanne.“ Herausfordernd sah sie Raphael an. „Ich dachte, Sie wären abgereist, Mr. Marchese.“
Da glaubte Raphael in ihrem Benehmen die gleiche Arroganz zu erkennen, die auch seinen Cousin auszeichnete. „Ich bin noch einmal zurückgekommen. Ist das ein Problem für Sie?“, imitierte er sie.
„Dazu möchte ich mich nicht äußern“, erwiderte Juliet schlagfertig, fühlte jedoch, wie sie errötete.
Sie ist also nicht so selbstsicher, wie sie vorgibt, stellte Raphael fest, wollte sie aber dennoch nicht so einfach davonkommen lassen. „Wieso
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