So weit der Wind uns trägt
hätte sich in diesem Alter wahrscheinlich ebenfalls angemalt, wenn Dona Clementina denn so verabscheuenswürdige Dinge wie Rouge oder Lippenstift besessen hätte. Das Höchstmaß an körperlicher Verschönerung, das ihre Mutter sich geleistet hatte, war ein Hauch Puder gewesen.
»Ich mag mich mit roten Lippen.« Laura stellte sich ganz nah vor den Spiegel im Flur, spitzte den Mund und tat so, als wolle sie ihr eigenes Spiegelbild küssen. Sie wusste, dass sie ihre Mutter damit auf die Palme brachte. Plötzlich nahm sie im Spiegel Paulinho wahr, der im Rahmen der Esszimmertür stand und das Geschehen mitverfolgte, wer weiß wie lange schon. Er schien fasziniert von dem Anblick seiner Schwester zu sein. »Und Paulinho«, fügte Laura abschließend mit einem kalten Lächeln hinzu, »mag mich auch mit roten Lippen. Weil ich dann nämlich genauso aussehe wie unsere liebe, ungerechte Mamã, die ihm alles durchgehen lässt.« Damit drehte sie sich einfach herum, stolzierte davon und ließ ihre Mutter mit versteinertem Gesicht zurück.
Eine halbe Stunde später klopfte es an Lauras Tür. Sie war nicht gewillt, sich auf eine Diskussion mit ihrer Mutter einzulassen, und sagte nichts. Die Tür öffnete sich vorsichtig, und Paulinho trat ein.
»Habe ich dir erlaubt, hereinzukommen?«
»Nein.« Ein schüchternes Lächeln huschte über das hübsche Gesicht des Jungen. »Aber du hast es auch nicht verboten, oder?«
Laura wunderte sich über das gewachsene Selbstvertrauen ihres Bruders. Vor wenigen Monaten noch war er traurig weggegangen, wenn sie ihn so von oben herab behandelt hatte.
»Mamã ist sehr traurig über das, was du gesagt hast.«
»So, und was geht dich das an?«
»Ich will nicht, dass du sie traurig machst.«
»Heul doch«, erwiderte sie patzig.
Aber genau das tat er nicht. Er starrte sie unverwandt an, mit einem Blick, aus dem das Bewusstsein sprach, dass er stärker war, als alle glaubten. Der Wandel, der sich mit ihrem kleinen Bruder vollzogen hatte, beunruhigte Laura in höchstem Maße – mehr als es die Miene ihrer Mutter vorhin im Flur getan und mehr als ihr eigenes, erwachsenes Spiegelbild sie irritiert hatte. Sie wandte den Blick von Paulinho ab und betrachtete sich selbst. Ohne so recht zu wissen, warum, wischte sie sich den verschmierten Lippenstift ab.
Das Letzte, was sie von Paulinho sah, als er ihr Zimmer verließ, war ein hintergründiges, beinahe böses Grinsen.
23
N ur durch Zufall kam Alberto Baião an den Kuhställen vorbei. Der intensive, warme und tröstliche Geruch von Mist drang aus den Ställen, doch der Junge hatte sich in seinen Jahren fernab des elterlichen Gutshofes an andere Düfte gewöhnt. Er hielt die Luft an und ging so schnell wie möglich an den Nutzgebäuden vorbei. Vor der Mauer lag ein großer, dampfender Misthaufen. Das Muhen der Tiere drang an sein Ohr. Es lag, wie beim Geruch des Kuhmistes, etwas Heimeliges darin, doch Alberto wollte es nicht hören. Eine Seite der Ställe bestand aus einer nur schulterhohen Mauer, und an der Öffnung darüber drängten sich die freundlichen, dummen Gesichter der Kühe, als hätten auch sie das Bedürfnis, frische Luft zu schnappen. Sie glotzten ihn an, und Alberto, der sich morgens um halb acht allein glaubte, redete im Vorbeigehen mit ihnen. »Ja, da schaut ihr Rindviecher, was?« Irgendwie war es ihm unangenehm, vor dieser Reihe von Zuschauern ganz allein den Weg entlangzudefilieren.
»
Bom dia
, Senhor Alberto!«, rief ihm der Knecht fröhlich zu.
»Oh.
Bom dia
, guten Tag, Manuel.« Um seine Verlegenheit zu überspielen, plapperte der Fünfzehnjährige weiter. »So früh schon auf den Beinen, he? Und das an einem Samstagmorgen. Wie geht’s, wie steht’s? Was macht die Frau, wie entwickeln sich die Kinder?«
Der Knecht wusste nicht recht, womit er so viel Interesse seitens des Sohns des Hauses verdient hatte, aber er freute sich über die Gelegenheit, seine einsame und monotone Arbeit mit ein wenig Geplauder zu unterbrechen. »Tja, die Kühe müssen ja gemolken werden, sonst schreien sie morgens Ihre ganze Familie aus den Betten. Frau und Kinder sind wohlauf, gedankt sei dem lieben Herrgott.«
Alberto trat an die offene Wand des Stalls und blickte darüber. Die Kühe waren vor ihm geflohen. Der Knecht saß auf einem Schemel unter einer Kuh und zupfte mit geschickten Handgriffen an deren Zitzen. Zsch, zsch, zsch – und wieder war ein halber Eimer voll. Er legte ein imposantes Tempo vor, und es schien ihn nicht im
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