So weit der Wind uns trägt
hatte ihm peinliche Fragen gestellt, ihm vielsagend zugelächelt, nur um plötzlich aufzuspringen und ihn allein zurückzulassen, irritiert und verliebt bis über beide Ohren. Ja, Alberto Baião war der festen Überzeugung, dass er die große Liebe kennengelernt hatte. Er hoffte, dass seine körperliche Entwicklung seine geistige bald aufholte, dass er endlich aussah wie ein Mann und nicht wie ein Junge. Und dann, so schwor er sich, würde er Laura da Costa bitten, seine Frau zu werden.
Laura hatte sich amüsiert über das betretene Gesicht des Nachbarjungen. Er hatte ihr ein bisschen leidgetan. Wie er sich gewunden hatte, welche Qual es ihm bereitet hatte, höflich zu bleiben und ihr nicht permanent auf den Busen zu starren! Es hatte Laura Spaß gemacht, ihr Genugtuung verschafft – so wie es sie jedes Mal freute, wenn sie einem Mann den Kopf verdrehen konnte. Dass sie ausgerechnet hier, während ihres kurzen Alentejo-Urlaubs ein so ideales Opfer finden würde, hätte sie nicht gedacht. Es war wie eine unerwartete Zugabe, eine Art verfrühtes Geburtstagsgeschenk.
Morgen war es so weit. Natürlich würde sie keine
festa dos quinze anos
feiern, wie so viele andere Mädchen, die fünfzehn Jahre alt wurden. Es war ja Weihnachten. Dennoch freute Laura sich diesmal auf ihren Geburtstag: In der Gegenwart ihrer Cousinen sowie von
tia
Mariana und
tio
Octávio, auf der leicht verwahrlosten Quinta und in der besänftigenden Landschaft verloren die Festtage etwas von dem Schrecken, den sie für Laura hatten. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte Laura ein schlechtes Gewissen, dass sie lieber nach Belo Horizonte fuhr als zu ihrer eigenen Familie an den Douro. Ihre Mutter, ihr Vater, ihre Großeltern sowie Paulinho wären dort. Weihnachten war einer der wenigen Anlässe, zu denen die Familie vereint war. Aber dann fielen ihr wieder all die missratenen Feste der vergangenen Jahre ein, die Demütigungen, die sie Paulinhos wegen hatte erleiden müssen, die von Lügen und unterschwelliger Feindseligkeit vergiftete Atmosphäre. Nein, sie hatte sich wirklich nichts vorzuwerfen. Es war richtig gewesen, die Einladung anzunehmen. Sie würde sich nicht mit Selbstzweifeln oder Gewissensbissen herumplagen. Laura war entschlossen, die kommenden Tage, in denen sie sich geliebt und umhegt fühlen würde, in vollen Zügen zu genießen.
Es war das erste Mal, dass ihre Mutter ihr erlaubt hatte, die Reise allein anzutreten. Mamã hatte sie in Lissabon in den Zug gesetzt,
tia
Mariana hatte sie am Bahnhof in Beja abgeholt. Doch während der Fahrt war Laura auf sich gestellt, und eine gewisse Erregung hatte von ihr Besitz ergriffen. Wie eine erwachsene Frau hatte sie in ihrem Abteil gesessen, den Zeichenblock auf den Knien und Weltschmerz in den Augen. Sie hatte ein paar Zigaretten geraucht, ohne sich vor der Entdeckung fürchten zu müssen. Keine Schwester Oberin war in der Nähe, um sie deswegen zurechtzuweisen, und keine Schwester Rosália, um sie daran zu erinnern, dass eine junge Dame den Blick zu senken hatte, wenn ein fremder Mann sie allzu aufdringlich ansah oder gar ansprach.
Pah! Nichts dergleichen hatte sie getan und würde sie auch nicht tun. Es war herrlich, wenn die Männer einen ansahen wie eine Frau. Auf diese begehrlichen Blicke würde sie niemals verzichten wollen – und nach all den Jahren im Internat war es allerhöchste Zeit, die eigene Wirkung auf die Männer zu erproben und zu genießen. Allzu viel Gelegenheit hatte sie dazu ohnehin nicht. Auf Belo Horizonte hielten sich jetzt, über Weihnachten 1931 , gerade mal zwei Männer auf, und die waren beide indiskutabel, nämlich ihr Onkel Octávio sowie dessen Bruder Edmundo. Ansonsten: nur Frauen. Ihre Tanten Beatriz und Mariana, ihre Cousinen sowie ausschließlich weibliches Hauspersonal. Na ja, sie würde das Beste daraus machen. Alberto war schon einmal ein guter Anfang gewesen.
Seit ihre Großeltern im Sommer bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren, war die Stimmung auf Belo Horizonte unerklärlicherweise besser geworden. Laura fragte sich, inwiefern Dona Clementina und Senhor José die Atmosphäre belastet haben konnten, aber ihr fiel kein vernünftiger Grund ein. Jedenfalls waren alle merklich gelöster als bei Lauras letztem längeren Besuch, vor der Beerdigung. Am Tag der Beisetzung schien sich die Trauer der Hinterbliebenen allerdings bereits erschöpft zu haben, denn jetzt, gerade ein halbes Jahr später, waren sie alle guter Dinge, liefen geschäftig durchs
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