So weit der Wind uns trägt
strengere Töne anschlug, brauchte Paulinho nur einen Satz zu sagen, um sie daran zu erinnern, dass sie nachgiebig zu sein hatte: »Dann sage ich es Papá.« Was genau er seinem Vater sagen wollte, dazu schwieg er sich aus. Ein einziges Mal hatte sie es gewagt, nachzufragen. »Was genau willst du Papá sagen, Schatz? Dass du deine Hausaufgaben nicht allein machen kannst? Ich denke, darüber wäre er ein wenig ärgerlich.« Doch als Antwort war von Paulinho die ebenso nichtssagende wie aufschlussreiche Antwort gekommen: »Nein, das nicht. Etwas anderes.« – »Aha?«, hatte sie ihn aufgefordert weiterzusprechen, und der Junge hatte mit den Schultern gezuckt und ihr einen boshaften Blick zugeworfen. Jujú gab auf. Sie hatte dieser Tyrannei nichts entgegenzusetzen, wenngleich sie noch immer vermutete, dass Luiza das Foto gestohlen hatte. Paulinho mit seinem feinen Gespür für ihre unterschwelligen Ängste hatte offenbar nur erkannt, dass es irgendetwas geben musste, was seine Mutter zu einem perfekten Opfer seiner Launen machte.
Auch das Dienstmädchen spürte, wie die Überheblichkeit ihrer Herrin dahinschwand. Ganz ohne sich vordergründig irgendeines Druckmittels zu bedienen, gelang es Luiza, der vornehmen Senhora Gefälligkeiten und Geschenke abzutrotzen, die noch vor ein paar Monaten undenkbar gewesen wären. »Senhora Dona Juliana, dieses Kleid habe ich schon länger nicht mehr an Ihnen gesehen. Benötigt es irgendeine Reparatur?« Luiza brachte diese Frage in einem Ton hervor, in dem sich Unterwürfigkeit und Drohung die Waage hielten. Jujú reagierte genau so, wie Luiza es anscheinend von ihr erwartete: »Aber nein, dem Kleid fehlt nichts. Du kannst es gern haben.«
Beim nächsten Mal ging es um einen freien Tag, dann um ein Paar Schuhe. Luiza wurde immer dreister. Je weniger ihre Senhora sich wehrte, desto mehr forderte sie. Und sie stahl. »Luiza, was ist mit der Porzellanschale auf der Anrichte passiert?«, fragte Jujú eines Tages, diesmal ernsthaft erbost. Es war ein sehr kostbares Stück, und sie hing daran, war es doch ein Geschenk von ihrer Mutter gewesen. Luizas Kinn zitterte, ihre Unterlippe bebte, und ihre Stimme war brüchig, als sie gestand: »Sie ist mir heruntergefallen. Oh Gott, liebe Senhora Dona Juliana, bitte verzeihen Sie mir! Ich ersetze Ihnen den Schaden, ziehen Sie es von meinem Lohn ab! Ich … mir war das Ungeschick so peinlich, dass ich die Scherben aufgekehrt und weggeworfen habe.« Sie schien jeden Moment in Tränen ausbrechen zu wollen, und Jujú blieb nichts anderes übrig, als eine Verwarnung auszusprechen. »Pass in Zukunft besser auf beim Staubwischen.« Luiza beglückwünschte sich für ihre schauspielerische Begabung und gab der völlig intakten Porzellanschale in ihrem eigenen bescheidenen Heim einen Ehrenplatz auf dem Mauervorsprung über dem Kamin.
Manchmal fragte Jujú sich, wieso sie sich all das von der Hausangestellten und von ihrem Sohn bieten ließ. Dann fasste sie den Entschluss, energisch gegen diese Art der Erpressung vorzugehen. Doch immer, wenn sie ihre Autorität durchsetzen wollte, hinderte sie ein heimtückischer Blick oder ein feindseliges Lächeln daran und ließ ihre Willenskraft auf ein Minimum zusammenschrumpfen. Es war unerträglich. Jujú empfand die Atmosphäre in ihrer eigenen Wohnung als immer bedrückender. Sie sah Gegner, wo eigentlich keine waren, und sie hörte Vorwürfe, wenn niemand etwas sagte.
Nur eine Person in ihrem Haushalt hielt einen Trumpf in der Hand, gegen den sie machtlos war – und zwei Personen partizipierten an den erschlichenen Vorteilen. Wie konnte sie sich jemals Klarheit darüber verschaffen, wer von beiden der Dieb und wer dessen Schmarotzer war?
Jujús Urteilsvermögen war von diesen Vorgängen derartig getrübt, dass sie gar nicht daran dachte, was ihr in letzter Konsequenz drohte – nämlich höchstens eine Rüge ihres Mannes, die ihr vollkommen gleichgültig wäre, sowie die Trennung von ihrem Sohn, die ihr im Augenblick sogar ganz gelegen käme. Etwas Schlimmeres als das konnte nicht passieren, und doch erschien es Jujú wie das Ende der Welt, wenn ihre Affäre mit Fernando an das Licht der Öffentlichkeit gezerrt worden wäre.
Die katholische Erziehung leistet wirklich ganze Arbeit, dachte sie in lichteren Momenten. Sünde und Verdammnis – darauf lief es hinaus. Sie wollte nicht als arme Büßerin dastehen, sie wollte nicht mit Dreck beworfen werden und schon auf Erden dem Fegefeuer ausgesetzt sein.
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