So weit der Wind uns trägt
In ihrer verworrenen Gefühlswelt, in der sich Schuldbewusstsein mit mangelnder Reue mischte, sah sie keine andere Lösung, als die Schikanen weiter über sich ergehen zu lassen. Und so übel waren diese ja nun auch wieder nicht, oder? Es kostete sie doch nichts, dem Hausmädchen eine alte Bluse zu schenken, und es war eigentlich nichts dabei, wenn sie, wie unzählige andere Mütter auch, die Wünsche ihres Sohnes erfüllte. Dass sie sich damit vielleicht an anderen Menschen versündigte, kam ihr nicht in den Sinn.
Laura kam an jedem zweiten Wochenende nach Hause, und was sie dort in letzter Zeit erlebte, ließ sie vor Wut erblassen. Sie war fast dreizehn Jahre alt – jung genug, um sich noch nach der Zuwendung und der Zärtlichkeit ihrer Mutter zu sehnen, aber auch schon so reif, dass sie von sich aus nicht mehr danach suchte. Dennoch verletzte es sie zutiefst, dass ihr kleiner Bruder im Bett der Mutter schlief – sie selber hatte das in seinem Alter nicht gedurft. Es wollte ihr auch nicht in den Kopf, dass Paulinho mäkelig in dem Essen herumstochern durfte, ohne zurechtgewiesen zu werden, während sie selber früher alles hatte aufessen müssen. Ebenso ungerecht fand sie es, dass er Kleidung trug, für die er eigentlich noch zu jung war, während sie mit acht gezwungen worden war, Kinderkleider und zwei lange Zöpfe zu tragen. Sie hätte sich damals auch lieber zurechtgemacht wie eine Dame, doch solche Dinge waren schlicht tabu gewesen.
Aber gut, wenn ihre Mutter plötzlich beschlossen hatte, großzügiger zu sein, dann wollte sie, Laura, ebenfalls davon profitieren. An einem Samstagmorgen, als ihre Mutter kurz aus dem Haus gegangen war, um ein paar Besorgungen zu erledigen, schlüpfte Laura in ihr Zimmer, setzte sich vor die Frisierkommode und malte ihren Mund leuchtend rot an. Sie hatte zwar an einigen Stellen die Farbe über die Konturen ihrer Lippen hinaus aufgetragen, dennoch gefiel sie sich ausgesprochen gut. Der Lippenstift machte sie so erwachsen. Ja, sie sah aus wie eine richtige Frau damit. Und warum sollte das auch nicht so sein? Immerhin war sie rein körperlich ja schon eine. Vor einem halben Jahr hatte ihre Menstruation eingesetzt, und ihre Brüste waren gewachsen. Nur ihre Eltern hatten davon anscheinend noch nichts bemerkt, für die war sie weiterhin ein kleines Mädchen.
Als Jujú nach Hause kam und ihrer Tochter gegenüberstand, die aussah wie eine frühreife Dirne, ließ sie schockiert ihre Einkaufstasche fallen und gab ihr eine Ohrfeige. Unmittelbar danach bedauerte sie ihre heftige Reaktion, doch ihr Erschrecken war nicht gewichen.
»Wisch das sofort ab!«
»Warum?«
»Weil ich es so will.«
»Du benutzt doch selber Lippenstift. Warum darf ich es dann nicht?«
»Weil du noch zu jung dafür bist.«
»Ich bin fast dreizehn. Ich bin kein Kind mehr!«
»Natürlich bist du kein Kind mehr – deshalb sollst du ja auch nicht so kindisch mit mir diskutieren, sondern augenblicklich das Geschmiere in deinem Gesicht abwischen.«
»Nein.«
Was?! Hatte sie sich verhört? Jujú war fassungslos angesichts dieser Widerrede.
Als Laura in den Augen ihrer Mutter die Kränkung wahrnahm, fühlte sie sich bemüßigt, ihren kleinen Triumph noch ein wenig auszukosten.
»Wenn ich alt genug dafür bin, Kinder zu kriegen, bin ich ja wohl auch alt genug dafür, Schminke zu benutzen.«
»Du bist was?« Jujú war ehrlich erstaunt. Himmel noch mal, das Kind war doch erst zwölf!
»Geschlechtsreif, Mãe.«
Jujú empörte sich insgeheim über die Wortwahl, die so verflucht erwachsen und aufgeklärt klang. Aber es würde wohl stimmen. Sie selber war im Alter von dreizehn
geschlechtsreif
gewesen, fiel ihr jetzt ein. Aber sie selber war auch viel reifer, größer, weiter gewesen als ihre Tochter jetzt. Laura war ein Kind. Sie spielte ja noch mit Puppen. Oder nicht? Vor einem Jahr hatte sie es noch getan.
Jujú versuchte sich nicht anmerken zu lassen, dass sie ihre Tochter nicht für halb so voll nahm, wie die es gerne gehabt hätte. Also verlegte sie sich auf einen vernünftigen Ton.
»Die Pubertät, mein Schatz, ist eine wichtige neue Phase in deinem Leben. Sie beinhaltet allerdings nicht das Recht auf den Gebrauch von Lippenstift oder anderen Kosmetika. Außerdem: Wenn man so jung ist und so hübsch wie du, hat man das doch gar nicht nötig. Nur alte Weiber wie ich müssen Lippenstift auftragen, damit wir nicht so farblos daherkommen.« Was für eine scheinheilige Ansprache, dachte Jujú. Sie selber
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