So weit der Wind uns trägt
Haus, um die Weihnachtsdekoration anzubringen, diskutierten fröhlich das Menü, verpackten unter großer Heimlichtuerei die Geschenke. Einzig
tia
Beatriz war noch unausstehlicher geworden, was man darauf zurückführen mochte, dass sie als Fahrerin des Unglückswagens den Unfall verschuldet hatte. Wäre sie nicht bei schlechter Sicht so gerast, würden die beiden alten Herrschaften noch leben.
Siedend heiß fiel Laura am Vortag von Heiligabend ein, dass sie für Tante Beatriz kein Geschenk hatte. Sie konnte sie nicht leiden, aber gar kein Präsent für sie zu haben, das wäre eine gemeine Kränkung, die nicht einmal eine Hexe wie sie verdiente. Laura suchte sich aus ihrem Gepäck den Skizzenblock heraus und blätterte ihn durch. Nein, es war nichts dabei, womit Beatriz etwas hätte anfangen können. Was interessierten die schon die Mitreisenden im Zug oder der Bahnsteig in Lissabon? Laura seufzte leise. Sie würde ihr etwas eigenes zeichnen müssen – wobei auch das, vermutete Laura, nicht unbedingt Freudenrufe bei ihrer Tante auslösen würde. Aber es half ja nichts. Außer einer Zeichnung hatte sie ihr nichts anzubieten. Vielleicht ein Porträt? Hm, lieber nicht. Es würde alles andere als schmeichelhaft ausfallen. Oder ein Detail von Belo Horizonte? Schon eher. Die Toreinfahrt? Ja, warum nicht? Laura schnappte sich Papier und Kohlestift, zog einen warmen Mantel über, ging den Weg vom Herrenhaus zur Einfahrt hinab und machte sich konzentriert ans Werk.
Es gelang ihr ziemlich gut, obwohl ihre Finger nach einer halben Stunde im Freien klamm und unbeweglich wurden. Das Tor, die bröckelnden Mäuerchen, in die es eingelassen war, dahinter die Auffahrt, die von winterlich kargen Büschen gesäumt war und an deren Ende das einst prächtige Haus lag – das alles verdichtete sich auf ihrem Blatt zu einem Szenario, das einem viktorianischen Schauerroman hätte entsprungen sein können. Durch die schwarze Kohle erhielt das Bild eine düstere Aussage, die sich, so dachte Laura, sicher gut vertragen würde mit der Weltanschauung ihrer Tante.
Diese Einschätzung war sicher nicht völlig aus der Luft gegriffen. Dennoch blieb die Reaktion der Beschenkten an Heiligabend hinter den Erwartungen Lauras zurück. Beatriz hatte nur einen kurzen Blick auf das Bild geworfen, ihrer Nichte forschend in die Augen geschaut und gesagt: »Siehst du es so? Also, ich nicht.« Kein Danke, kein Kompliment – und auch kein Geschenk für Laura. Sie hätte sich die Mühe sparen können.
Umso warmherziger waren Tante Mariana und ihre Cousine Octávia, die ihr vom Alter und vom Wesen her am nächsten von allen drei Mädchen war. Sie überschütteten Laura mit Lob für ihre Zeichnungen, bewunderten insbesondere das Bild, das Beatriz geschenkt bekommen hatte, und überreichten ihr dann das Geschenk, das von der ganzen Familie war: eine Staffelei, eine Leinwand, diverse Pinsel und einen Kasten mit etwa zwölf Tuben Ölfarbe. »Wir dachten, mit dem richtigen Zubehör kannst du vielleicht noch besser malen.«
Es war ein wunderbares Geschenk. Erstmals hatte sich jemand ernsthaft darüber Gedanken gemacht, was ihr wirklich Freude bereiten könnte. Kein lieblos ausgewähltes Buch, kein Kleidungsstück, das nicht ihrem, sondern dem Geschmack ihrer Mutter entsprach, und keine phantasielose Pralinenschachtel wie die, mit denen Paulinho sie alljährlich »überraschte«. Sie bedankte sich überschwänglich bei Onkel, Tante und den drei Schwestern. Unentschlossen blieb sie dann vor Beatriz stehen. Hatte sie sich an dem Geschenk beteiligt? Sollte sie ihr ebenfalls mit einem Küsschen auf die Wange danken? »Keine Bange«, sagte diese, »du musst dich nicht zu einem Kuss überwinden. Ich habe mit diesem Geschenk nichts zu schaffen.«
Laura fragte sich kurz, woher diese geballte Boshaftigkeit stammte, vergaß dann aber ihren Ärger, als die anderen ihre Geschenke auspackten und es schließlich unter großem Wirbel und Durcheinander ins Esszimmer ging. Laura wusste, dass es in dieser chaotischen Familie noch mindestens eine Viertelstunde dauern würde, bis alle am Tisch saßen und das Essen aufgetragen werden konnte. Sie nutzte die Zeit, um sich schnell ein wenig zurechtzumachen. Sie wollte den Lippenstift auftragen, den sie von ihrer Internatsfreundin Alice als verfrühtes Geburtstagsgeschenk bekommen hatte – heute, ohne die strengen Blicke der Eltern und bei der allgemeinen Hochstimmung, würde wohl kaum jemand etwas dagegen sagen. Doch sie täuschte
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