So weit der Wind uns trägt
ohne Make-up und ohne Kleider. Er kannte sie mit staubigem Hosenboden und mit zerrupfter Frisur. Er kannte sie in- und auswendig – oder zumindest ihren Körper. Ob er jemals bis ganz tief auf den Grund ihrer Seele geblickt hatte, das bezweifelte Jujú. Und deswegen würde er auch niemals verstehen, weshalb sie sich und ihm heute dieses Ultimatum gestellt hatte.
Natürlich hätte sie niemals die Torheit besessen, diese Frist beim Namen zu nennen.
Wenn du heute nicht kommst, brauchst du nie wieder zu kommen
. Aber sie hatte ihn in letzter Zeit deutlich genug spüren lassen, wie ernst es ihr war. Sie hatte gezankt, gedroht und ihn unter Druck gesetzt. Es reichte ihr. Sie wollte nicht länger die zweite Geige in seinem Leben spielen. Oder die dritte. Erst die Pflicht gegenüber dem Vaterland. Dann die Gemahlin Dona Elisabete. Und dann sie. Nein, so ging es nicht weiter.
»Luiza!«, rief sie nach dem Hausmädchen. »Ist mein weißer Schal schon gereinigt worden?«
Wenig später hörte sie die trippelnden Schritte Luizas im Flur, dann ein zurückhaltendes Klopfen.
»Ja, ja, komm schon herein. Also, was ist jetzt: Kann ich den Schal jetzt haben?«
Luiza machte ein zerknirschtes Gesicht. »Also, es ist so, Dona Juliana. Aus Versehen ist mir eine rote Bluse mit in die Waschlauge geraten, und da …«
»Was?! Sprich nur weiter! Da hast du gedacht, du nimmst den nunmehr rosafarbenen Schal mit nach Hause?«
Luiza nickte betreten.
»Hör mir mal zu: Ich habe mir das jetzt lange genug bieten lassen. Entweder habe ich morgen den Schal zurück, in welcher Farbe auch immer, oder du kannst mit dem Schal um den Hals zur Fürsorge gehen und dich dort in die lange Schlange stellen. Habe ich mich klar ausgedrückt?«
Luiza verzog das Gesicht zu einer Miene, die nach einem unterdrückten Weinkrampf aussah. Sie nickte, warf der Senhora aber einen verschlagenen Blick zu, der dieser durchaus nicht entging. Doch Jujú war in einer so nervösen, gereizten Laune, dass es ihr schlichtweg egal war, mit welchen subtilen Drohgebärden diese dralle Inkarnation der Dreistigkeit sich hier dicke machte. Sie hatte den Kragen gestrichen voll. Das musste aufhören. Sofort.
»Wolltest du mir noch irgendetwas sagen?«, blaffte sie sie an.
»Nein, ich dachte nur, dass, wenn die Senhora auf meine Dienste verzichten will, was ich mir gar nicht erklären kann, nach all den Jahren treuer und guter Arbeit, dass ich also dann vielleicht den Cousin meines Mannes, den Redakteur Mota da Costa von der
Gazeta Popular
, fragen könnte, ob er eine
aufmerksame
Kraft für seinen Haushalt braucht.«
Oho! Jetzt war es raus. Jujú sah in die bösartigen Augen Luizas. Ihre überhebliche Streitlust verpuffte augenblicklich und machte einer stillen Wut Platz. Wenn das alte Foto jemals in der Presse erschiene, würde das Fernandos Karriere einen erheblichen Dämpfer verpassen. Es war allzu offensichtlich darauf zu erkennen, dass sie nicht einfach nur Freunde waren. Sie sahen aus wie ein Liebespaar. Zumindest glaubte Jujú sich daran zu erinnern, dass es so gewesen war – sie hatte das Bild immerhin schon sehr lange nicht mehr betrachtet.
»Herrje, Luiza, nun mach doch nicht so ein Theater darum. Du bringst mir einfach meinen Schal mit, Rosé steht mir ja auch nicht schlecht, und dann vergessen wir die ganze Angelegenheit.«
Luiza nickte, machte einen angedeuteten Knicks und verließ das Zimmer, ein Bild reinster Dienstbeflissenheit. Jujú wusste, dass sie ihren Schal nie wiedersehen würde. Und sie wusste ebenfalls, dass das Stück keineswegs verfärbt war. In einer plötzlichen Attacke von unbändigem Hass nahm Jujú ihren Parfumzerstäuber und schmetterte ihn gegen die Wand. Der Duft des Parfüms begleitete sie auf ihrem Weg ins Kaffeehaus, und auch als sie schon längst dort saß und die
bica
vor ihr stand, hatte sie ihn noch in der Nase.
La vie en rose
. Wie außerordentlich passend.
António Saraiva stauchte den jungen Francisco zusammen. Der Knabe weigerte sich, ihm, dem Oberkellner, seinen Teil am Trinkgeld abzutreten. Es fehlte Francisco ganz klar an Respekt gegenüber Älteren sowie an Verständnis für die Abläufe und Gesetze in der Gastronomie. So war das nun einmal. Er selber hatte als junger Bursche auch sein Trinkgeld mit dem Oberkellner teilen müssen. Natürlich gab es Mittel und Wege, die Zusatzeinkünfte offiziell ganz gering aussehen zu lassen. Er selber hatte das damals ziemlich schnell begriffen: Von zehn eingenommenen Escudos hatte
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