So weit der Wind uns trägt
bleiben konnten, und seine Schwester davon zu überzeugen, dass sie in Frankreich erst recht nicht sicher war. Immerhin verfügte er jetzt über einiges Geld.
Jakob hatte sich den März 1939 anders vorgestellt. Er hatte gehofft, nein: gewusst, dass er nach seinem Abschluss am Konservatorium ein Engagement bei den Berliner Philharmonikern bekommen würde. Und er hatte davon geträumt, anschließend als Solist zu Ruhm und Reichtum zu gelangen. Er war einer der begabtesten Violinisten seiner Generation, und er war sich absolut sicher gewesen, dass einer brillanten Musikerkarriere nichts im Wege stand. An Selbstbewusstsein und Chuzpe hatte es ihm damals nicht gemangelt. Bis der braune Pöbel die Apotheke seiner Eltern auseinandergenommen hatte. Bis er des Konservatoriums verwiesen worden war. Bis sein Mädchen, Helga, sich nicht mehr mit ihm in der Öffentlichkeit sehen lassen wollte.
Die vergangenen sechs Jahre waren eine furchtbare Zeit gewesen, die Jakob einen großen Teil seines Selbstvertrauens gekostet hatte. Es war erschütternd, an sich selber zu beobachten, wie schnell die Umstände einen vom Wunderkind zum Prügelknaben werden ließen, wie wenig es brauchte, um das arrogant erhobene Kinn zu senken und sich nur noch geduckt zu bewegen. Und wie ausgerechnet die Nazis etwas geschafft hatten, was seinem Vater nie gelungen war: ihn, Jakob Waizman, dazu zu zwingen, sich mit seinem Judentum auseinanderzusetzen.
Wenn er sich vorher mit allem Möglichen identifiziert hatte – er fühlte sich, und zwar in dieser Reihenfolge, mehr als Mann, Deutscher, Violinist, Sozialist und Herta-Anhänger, als dass er sich als Juden betrachtete – so hatte ihn der Wahn seiner Landsleute auf seine Religionszugehörigkeit reduziert. Ausgerechnet ihn, der nie in die Synagoge ging und der gern Schinkenbrötchen aß, der außer »shalom« kaum ein Wort Hebräisch konnte, stempelte man zum »Israeliten« ab.
Jetzt, mit siebenundzwanzig Jahren, wusste Jakob, dass all das in Wahrheit egal war. Ob er Jude war oder welche Nationalität er besaß, spielte nicht die allergeringste Rolle für sein Überleben. Das Einzige, was zählte, waren Papiere und Stempel. Ein Pass und Visa. Einreise-, Ausreise, Durchreise- oder Touristenvisum, gültig für Tage oder Wochen, danach sah man weiter. Wem es nicht gelang, innerhalb des amtlich erlaubten Zeitraums die nächste Ländergrenze zu erreichen, der musste den europäischen Behördenirrsinn wieder von vorn durchlaufen.
Jakob nahm am Cais do Sodré die Straßenbahn zum Rossio-Bahnhof. Er hatte noch ein paar Stunden Zeit, bevor er seinen nächsten Schüler unterrichtete, einen plumpen Dreizehnjährigen, dem das Geigenspiel zwar überhaupt nicht lag, dessen Mutter aber unbeirrt an sein Talent glaubte. Auch das war Jakob mittlerweile egal. Seine Ohren hatten anfangs gelitten, sein Herz hatte geblutet, wenn er hörte, wie Vivaldi von all den verwöhnten, unbegabten Kindern vergewaltigt wurde. Heute war er froh, dass er überhaupt eine relativ zuverlässige Einkommensquelle aufgetan hatte.
Am Rossio ging es, wie immer, lebhaft zu. Unzählige Menschen mit gehetztem Blick tummelten sich in der Halle, Emigranten wie er. Deutsche, englische, spanische, italienische, französische, holländische und polnische Sprachfetzen drangen an Jakobs Ohr, neben portugiesischen Flüchen oder lauten Hallo-Rufen. Die Portugiesen erkannte man am besten daran, dass sie nicht leise zu sein brauchten – auch dies eine der Erkenntnisse, denen Jakob sein Überleben verdankte. Er beherrschte die Landessprache inzwischen akzentfrei, und je lauter er herumschwadronierte, desto unauffälliger war er. Kein Mensch käme je auf die Idee, er könnte nicht António Coelho Lisboa sein, so wie es in seinem Pass stand.
Nachdem Jakob eine Weile herumgeschlendert war, sich mit Reisenden unterhalten und Informationen über die aktuelle Lage in Frankreich ergattert hatte, beschloss er, sich vor dem nervtötenden Unterricht noch in die »Pastelaria Suiça« zu setzen und den
Diário de Notícias
zu lesen. Auf einer Bank gleich neben dem Ausgang fiel ihm eine junge Frau auf, die ausnehmend hübsch und völlig vertieft in eine Zeichenarbeit war. Mit schnellen Kohlestrichen skizzierte sie die Begrüßung zweier abgerissen aussehender Menschen. Jakob blieb eine Weile neben der Bank stehen und schaute der Künstlerin über die Schulter. Er fand ihre Zeichnung sehr gelungen. Sie hatte einen guten Blick für Details, die anderen Zuschauern der
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