So weit der Wind uns trägt
er sechs in einer geheimen Innentasche seiner Kellnerweste verschwinden lassen, so dass er nur noch seinen Anteil von vieren teilen musste. Aber sogar für solche Tricks war der junge Francisco zu blöd. Er war schon kein sonderlich guter Kellner. Weder körperlich noch geistig war er flink und wendig. Bei mehr als zwei Bestellungen musste er seinen Block zücken, um sich alles zu notieren, und beim Herausgeben des Wechselgeldes verrechnete er sich mit sicherem Instinkt zugunsten des Gastes. Nein, der Bursche war kein Gewinn für ihr Haus und noch weniger für ihn, António. Er würde nicht mehr lange hierbleiben.
Nachdem er ihm gehörig die Meinung gesagt hatte, beobachtete António, wie Francisco in den Gastraum schlich und dort jetzt an Tisch 7 eine Bestellung aufnahm. Am liebsten wäre er ihm nachgelaufen und hätte ihm mit einem Tritt in den Hintern zu mehr Schnelligkeit und besserer Haltung verholfen. Dann erkannte er plötzlich den Gast an Tisch 7 . Es war wieder die schöne Dame, die ihn seit seiner allerersten Zeit hier im »A Brasileira« verzaubert hatte. Wie lange das her war! Bestimmt schon zehn Jahre, wenn nicht gar mehr. Sie war in dieser Zeit öfter hier gewesen, mal allein, mal in Begleitung eines uniformierten Herrn, der António vage bekannt vorkam, und manchmal auch in Gesellschaft anderer Damen ihres Alters. Heute jedoch erinnerte sie António mehr als sonst an jenes erste Mal. Sie schaute wieder genauso unglücklich drein wie damals. Wieder sah sie versonnen den Rauchkringeln nach, die ihrem sinnlichen roten Mund entwichen.
Die Dame hatte sich kaum verändert. Sie mochte um die vierzig sein, aber sie sah noch immer sehr gut aus. Sehr verführerisch. Sie trug die Haare jetzt anders als in den zwanziger Jahren, länger, und auch in ihrer Kleidung war sie mit der Mode gegangen, der Saum war kürzer. Und doch hatte sie noch immer, oder sogar mehr noch als früher, diese Aura einer
Frau mit Vergangenheit
, die António Saraiva so betörend fand. António entriss dem armen Francisco den Bestellzettel mit der barsch hingeworfenen Erklärung: »Um diese Dame kümmere ich mich.« Dann ließ er sich an der Theke den Kaffee und den Cognac geben und eilte an den Tisch. Er stellte die Getränke ab und fragte: »Haben Sie noch einen Wunsch, gnädige Frau?«
Sie nestelte ungeduldig an ihrer Zigarettendose, zog eine der langen Zigaretten hervor und ließ sich von ihm Feuer geben. Sie legte dabei ihre Hand halb um seine, wie um die Flamme vor dem Wind zu schützen, der hier nicht wehte, und ermutigte António damit, ihr einen glühenden Blick zuzuwerfen.
»Sie dürfen sich entfernen, danke«, sagte sie, und erst jetzt verdichtete sich Antónios Eindruck, diese Szene genau so und nicht anders schon einmal erlebt zu haben. Er hatte, ohne den vornehmen französischen Begriff dafür zu kennen, ein Déjà-vu. Er begegnete dem Blick der Frau in dem hohen Wandspiegel und sah, dass sie diese blitzartige Erfahrung ebenfalls gerade gemacht hatte. Er lächelte ihr zu, und sie lächelte zurück. Selig schwebte António zurück zur Bar, wo ihn ein dämlich grinsender Francisco erwartete und ihn sofort mit unverschämten Fragen aus seinen schönen Gedanken riss.
Jujú sah auf die Uhr. Zwanzig Minuten wartete sie bereits. Sie war schon bei der zweiten Runde Kaffee und Cognac angelangt, und sie rauchte sicher schon die dritte Zigarette. Noch zehn Minuten. Wenn Fernando bis dahin nicht auftauchte, würde sie gehen – und er brauchte ihr nie wieder unter die Augen zu treten. Sie nippte an dem Cognac und fühlte ihn warm ihre Kehle herunterrinnen. Darin läge dann in Zukunft ihr einziger Trost, dachte sie unfröhlich, sich von Kellnern anschmachten zu lassen und sich der Trunksucht hinzugeben.
Was dachte Fernando sich nur dabei? Sie hatte ihm praktisch ihr Leben geopfert. Ihm zuliebe war sie die unsägliche Ehe mit Rui eingegangen. Ihm zuliebe hatte sie ihre Kinder bereitwillig ins Internat geschickt. Und ihm zuliebe ließ sie sich sogar vom Hausmädchen tyrannisieren. Ihr selber konnte es doch vollkommen gleichgültig sein, ob dieses verräterische Foto jemals in Umlauf geriet. Es war Fernandos Karriere, an die sie dachte, sein Ruf und seine Ehre, die sie verteidigte. Und was war der Dank dafür? Dass er sie hier sitzen ließ wie eine lästige Verehrerin, deren man sich schon längst entledigen wollte. Oh nein, nicht mit ihr!
Als Fernando den ersten Ordner dieser unglaublich voluminösen Akte durchgearbeitet hatte,
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