So weit der Wind uns trägt
war er sich nicht sicher, ob er das ausschweifende Geschwafel noch länger ertragen konnte. Teufel auch, eines Tages würde Portugal unter der Last von Schriftstücken ersticken, die irgendwelche Bürokraten mit einem infamen Faible für verschachtelte Sätze formuliert hatten. Wofür diese Korinthenkacker, die die vor ihm liegende Akte verbrochen hatten, 150 Seiten brauchten, hätte er selber höchstens zehn Seiten benötigt. Und darauf hätte er mit großer Wahrscheinlichkeit weniger Verwirrung gestiftet als diese Gelehrten in ihrem unzumutbaren Erguss. Ja, jetzt könnte er tatsächlich eine Kaffeepause gebrauchen. Doch ein Blick auf die Wanduhr ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Herrje, über zwei Stunden hatte er mit diesem Gewäsch verschwendet! Selbst wenn er jetzt wie um sein Leben rannte, würde er nicht annähernd pünktlich zu seinem Rendezvous erscheinen.
Er warf sich einen Mantel über, gab seinem Sekretär im Vorbeigehen rasch einige Anweisungen und begann, kaum dass er ins Freie getreten war, zu laufen. Er hatte eine gute Kondition, und er lief schnell. Schneller jedenfalls, als sein Chauffeur oder die Tram für die Strecke benötigten. Er fiel in einen Rhythmus, bei dem er die einzelnen Laufschritte mitzählte. Dieses monotone Abzählen beruhigte ihn. Es hinderte ihn daran, über andere Dinge nachzudenken. Zum Beispiel, was passieren würde, wenn er Jujú nicht mehr in dem Café anträfe. Er hatte das diffuse Gefühl, dass sie es ihm diesmal wirklich übel nehmen und ihn in irgendeiner Form bestrafen würde, etwa durch Entzug ihrer Gegenwart. Fernando rannte wie der Teufel.
Er nahm immer zwei Stufen auf einmal, als er die Treppe zwischen der Rua do Crucifixo und der Rua Nova do Almada und anschließend von dort hinauf zur Rua Ivens lief. Es störte ihn, wenn die Anzahl der Stufen nicht aufging und er zum Schluss nur noch eine Stufe vor sich hatte. Ungerade Zahlen waren ein unnötiges Ärgernis. Er schnappte nach Luft, als er oben ankam. Puh, so ausdauernd wie als Jüngling war er nicht mehr. Er wischte sich den feinen Schweißfilm von der Oberlippe und der Stirn. Er wollte ja nicht wie ein Irrer durch die Tür zum Café »A Brasileira« stürzen.
Doch seine Bemühungen um einen korrekten Auftritt waren umsonst. Jujú war nicht mehr da. Fernando sah auf die Uhr: Er war fünfunddreißig Minuten zu spät. Er wusste, dass Jujú hier gewesen war. Sogar bis vor kurzem noch hier gewesen war – ein Hauch von »La vie en rose« lag noch in der Luft, ganz schwach auszumachen unter dem intensiven Duftgemisch von Kaffee und Zigarettenqualm. Erschöpft ließ er sich auf einen Stuhl fallen und bestellte einen
garoto escuro
, einen Espresso mit einem kleinen Schuss Milch. Als der mondgesichtige, dümmlich wirkende Kellner ihn fragte, ob er dazu ein Stück Kuchen wünschte, schüttelte Fernando geistesabwesend den Kopf. Er war in Gedanken woanders. Plötzlich hatte er mit schmerzhafter Klarheit erkannt, was er schon vor Jahren hätte sehen müssen: Jujú war die Primzahl in seinem Leben.
Nur durch sich selbst und durch eins teilbar. Und niemals durch zwei.
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1939 – 1950
25
E r hätte die »Serpa Pinto« nehmen sollen. Das Schiff würde in Kürze in New York einlaufen, und dort wäre er nicht nur in Sicherheit gewesen, sondern wahrscheinlich auch eher in der Lage, seiner Familie Visa zu beschaffen und Geld zukommen zu lassen. Hier, in Lissabon, wurde es allmählich brenzlig. Zu viele Flüchtlinge tummelten sich bereits in der Stadt, und zu viele Bürokraten erhofften sich von deren verzweifelter Situation eine Aufbesserung ihrer Bargeldreserven. Arbeit war kaum welche zu bekommen – jedenfalls nicht, wenn man Ausländer war und nur ein Transitvisum hatte. Beides traf auf António Coelho Lisboa nicht zu.
Dennoch fühlte Jakob Waizman sich mit dem Pass des verstorbenen António, in den ein überbezahlter Fälscher Jakobs Foto geklebt hatte, nicht sicher. Jakob blieb noch ein paar Minuten am Pier stehen, betrachtete den regen Schiffsverkehr auf dem Tejo und zwang sich, den Tatsachen ins Auge zu sehen. Das Schiff, auf dem er mit Müh und Not eine Passage ergattert hatte, war fort. An Jakobs Stelle fuhr jetzt ein älterer Mann mit, der ihm das Dreifache dessen für die Fahrkarte gegeben hatte, was er selber bezahlt hatte. Es lohnte nicht, dieser Gelegenheit nachzutrauern. Jetzt musste er alles daransetzen, seine Eltern aus der Schweiz zu holen, wo sie mit ihren Touristenvisa nicht mehr lange
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