So weit der Wind uns trägt
umsorgen, er würde sie zu regelmäßigen Mahlzeiten und ausreichend Schlaf verdonnern. Jeder Flüchtling wusste, wie wichtig es war, dass man bei Kräften blieb, dass man die Bedürfnisse des Körpers nicht denen der Seele unterordnen durfte. Er hatte eine kleine Wohnung in der Alfama gefunden, keine zwei Blocks von Lauras bisheriger Bleibe entfernt. Den Mietvertrag hatte er unter seinem Namen abgeschlossen, und als sie einzogen, gingen sowohl der Vermieter als auch die Nachbarn wie selbstverständlich davon aus, dass es sich bei den neuen Bewohnern um Herrn und Frau Coelho Lisboa handelte. Jakob und Laura ließen die Leute in dem Glauben. Man musste die Dinge nicht unnötig komplizieren.
Doch das junge »Ehepaar« sah sich auch einem hohen Maß an meist wohlwollender Neugier ausgesetzt, die sehr lästig war. Es herrschte ein Mangel an Privatsphäre, wie er ihnen beiden äußerst unangenehm war – speziell, wenn morgens Kommentare über die Dauer oder die Lautstärke ihres Liebesaktes abgegeben wurden. Ein paar ältere Frauen quetschten Laura nach den Vorzügen ihres jungen Ehemannes im Bett aus, die Männer machten Jakob gegenüber anzügliche Bemerkungen über Lauras allzu schlanke Figur. Und einige der Nachbarn fragten in ihrer ordinären Art: »Na, immer noch kein Braten in der Röhre?«
Nein, zum Glück nicht, dachte Jakob. An Kinder war in ihrer derzeitigen Situation nicht zu denken. Mit der Verhütung war es allerdings nicht so einfach. Manchmal überkam sie beide ein so brennendes Verlangen, dass ihre Gehirne vorübergehend aussetzten und sie alles andere vergaßen. Doch bisher war alles gutgegangen, toi, toi, toi.
Herbst und Winter verbrachten sie mehr im Bett als irgendwo anders, kuschelnd und schniefend. Es war kalt und klamm in der zugigen Wohnung, beide hatten nacheinander schwere Erkältungen. Erst im März begann Laura wieder zu malen – vorher waren ihre Finger zu steif gewesen, um einen Pinsel oder eine Kreide halten zu können. Doch was sie malte, war, zumindest in Jakobs Augen, die lange Ruhepause wert gewesen. Allein auf den Skizzen, die sie von seinen Händen anfertigte, erkannte er, um wie viel besser sie geworden war. Nicht einmal in der schwierigen Zeit mit Paul Adler waren ihr so gute Hände gelungen. Vielleicht hatte das Erlernte Zeit gebraucht, um sich zu setzen. Bei manchen seiner Musikschüler war es ähnlich: Erst wenn sie nicht mehr mit beklommenem Gefühl an die schwierigen Passagen herangingen, die sie eigentlich technisch beherrschen sollten, flossen Kraft und Gefühl in ihr Violinspiel. Nun ja, genau genommen hatte Jakob nur einen einzigen Schüler, bei dem dieses Phänomen jemals zu beobachten gewesen war.
Im Frühling 1940 verwandelte die Sonne die Stadt mit ihrer ungeheuren Kraft in einen Ort, an dem die erwachenden Lebensgeister der Menschen für eine urlaubsähnliche Atmosphäre sorgten. Die Maronenverkäufer verschwanden, Eiswagen nahmen ihren Platz ein. Helle Farben lösten dunkle ab, und über allem lag der Duft der blühenden Bäume. Bei Laura hatte der unverhoffte Erfolg mit den Händen eine Blockade gelöst. Sie malte vom frühen Morgen bis zur Abenddämmerung, und ihre Energie schien unerschöpflich.
»Sag mal, Jakob, willst du nicht als mein Agent auftreten?«, fragte sie ihn eines Tages.
»Tue ich das nicht schon?«
»Ach, du und deine Gegenfragen! Nein, ich meine, du sollst dich nicht als ein Freund oder als der Mann der Künstlerin vorstellen, sondern als ihr Agent. Das macht doch wesentlich mehr her, findest du nicht?«
Sie behielt recht. Dank seiner Chuzpe und ihres Talents wurde der namhafte Galerist Jorge Kelekian auf Laura da Costa aufmerksam und versprach ihr die Teilnahme an einer Gemeinschaftsausstellung im September. Laura malte den Sommer über wie besessen. Die drückende Hitze in der als Atelier denkbar ungeeigneten Wohnung machte ihr nichts aus. Sie war motiviert wie nie zuvor in ihrem Leben.
Jakob ließ sich von ihrer Begeisterung gern anstecken, wenn er mit ihr zusammen war. Er wollte Laura nicht mit seinen eigenen Problemen belasten. Natürlich wusste sie um seine Nöte, und sie machte sich ebenfalls Gedanken über Jakobs Angehörige, die sie nur aus Erzählungen kannte. Dennoch, oder vielleicht gerade weil Laura spürte, wie gern Jakob sich vorübergehend von seinen Sorgen ablenken ließ, sprach sie ihn kaum darauf an. Es war, als hätten die Gräuel dieser Welt keinen Zugang zu ihrer kleinen schäbigen Wohnung, ihrem Nest, in dem es
Weitere Kostenlose Bücher