So weit der Wind uns trägt
nur sie beide, die Liebe und die Kunst zu geben schien.
Kaum verließ Jakob die Wohnung, schienen ihn seine Sorgen dafür mit doppelter Wucht zu zermalmen. Von seinen Eltern hatte er gar nichts mehr gehört, seine Schwester saß in Südfrankreich und litt unter den Schikanen der Vichy-Regierung. Herrje, wäre er als Schleuser doch nur halb so erfolgreich wie als »Künstler-Agent«! Er verbrachte quälende Tage unter der sengenden Sonne und inmitten Massen anderer verzweifelter Menschen vor der US -Botschaft, um ein Visum für Esther Waizman zu ergattern, das Esther überhaupt nichts nützen würde, solange sie nicht aus Frankreich herauskam. Dort wiederum kam sie nicht heraus, wenn ihr nicht Spanien und Portugal Transitvisa genehmigen würden, und das wiederum war aufgrund der offenkundigen Sympathien von Franco und Salazar für die Nazis immer schwieriger.
Aber er hatte seine Schwester unterschätzt, wie es wahrscheinlich alle älteren Geschwister mit den jüngeren tun und erst recht ältere Brüder mit jüngeren Schwestern. Esther schaffte es aus eigener Kraft. Sie war unter abenteuerlichsten Umständen aus Frankreich herausgekommen, hatte sich, teils zu Fuß, teils auf Ladeflächen von Lieferwagen, durch Spanien gekämpft und hatte mit ihrer letzten Barschaft einen portugiesischen Grenzbeamten bestochen. Jedenfalls war das ihre Version der Ereignisse. Jakob zwang sich dazu, den Dingen nicht näher auf den Grund zu gehen.
Zum Glück war Jakob gerade zu Hause, als Esther in Lissabon plötzlich vor der Tür von seiner und Lauras Wohnung stand. Laura hätte diese Elendsgestalt womöglich abgewimmelt. Selbst Jakob hatte Mühe, in dem ausgemergelten, verschmutzten Wesen seine Schwester zu erkennen. Sie fielen einander in die Arme. Jakob war so erleichtert und glücklich und erschüttert zugleich, dass er sein Schluchzen kaum unter Kontrolle bekam. Esther dagegen wirkte merkwürdig unbeteiligt.
Diese Apathie legte sich auch im Laufe des Augusts nicht. Laura, die sich anfangs aufrichtig für die Geschwister gefreut hatte, begann sich über Esthers Benehmen zu ärgern. Es war ohnehin schon so eng und heiß in ihrer Wohnung, musste da auch noch ständig diese deprimierte Frau herumhocken? Trauma hin oder her – warum machte sie sich nicht einmal nützlich, wusch Kleider, kaufte ein, putzte? Sie selber war ja mit Feuereifer damit beschäftigt, genügend Bilder für die anstehende Ausstellung zusammenzubekommen, und ein wenig Hilfe bei den Alltagsverrichtungen hätte sie gut gebrauchen können. Aber nichts dergleichen. Esther saß schweigsam in der Ecke, blätterte in alten Büchern von Laura, ohne so zu wirken, als lese sie. Bis Laura sie irgendwann einmal scharf anfuhr: »Schämst du dich eigentlich nicht dafür, so ein Schmarotzer zu sein?«
Der Blick, den Esther ihr zuwarf, war der einer sterbenden Kreatur. Es war das erste Mal in den Wochen seit ihrer Ankunft in Lissabon, dass Esther ihr ihre verletzte Seele offenbart hatte. Laura hasste sich für ihre ungehaltene Äußerung – und freute sich zugleich über die Reaktion, die sie damit hervorgerufen hatte: Esthers gequälter Blick faszinierte Laura ungemein, und wenn sie ihn auf ihrer Leinwand verewigen konnte, dann wäre das ihr sicherer Durchbruch als Künstlerin.
Später sollte Laura sich immer wieder darüber wundern, warum ihr die Idee nicht bereits früher gekommen war. Denn als sie ihr kam, blieb nicht mehr viel Zeit. Esther schien erleichtert zu sein, dass sie sich nun doch, auf ihre duldsame, stille Art, nützlich machen konnte, ohne die Wohnung verlassen zu müssen. Und Laura war hingerissen von ihrem Modell: von Esthers einstiger Schönheit, die hinter dem verhärmten Gesicht noch schwach zu erkennen war, von ihrer teilnahmslosen Miene, in der dennoch alle Tragik dieser Welt geschrieben stand, und von ihrer Ähnlichkeit mit Jakob, die mehr im Ausdruck als in der Form von Lippen, Nase oder Augen auszumachen war.
Laura fertigte von Esther so viele Gemälde an, wie es ihr in der kurzen Zeit nur möglich war. Alle zeigten die junge Frau in der Wohnung, lesend auf dem Sofa, nachdenklich auf den Fensterrahmen gestützt oder mit aufgestützten Ellbogen am Tisch. So gut wie nichts lenkte von ihrem Gesicht ab, keine Blumenvase, kein Zierrat, keine wehende Gardine. Anders als bei den Bildern, die Laura von Jakob gemalt hatte – war das wirklich erst ein Jahr her? –, verzichtete sie auf alles Überflüssige, auf opulente Hintergründe genauso wie auf
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