So weit der Wind uns trägt
markantes Kinn und herrlich weiße Zähne. Nicht, dass er sie allzu oft zeigte. Mit dem Lächeln schien es dieser Junge ja nicht so zu haben, worin er übrigens den anderen Leuten hier in der Gegend sehr ähnlich war. Sonst aber hatte er nicht viel mit ihnen gemein, glaubte Marisa erkannt zu haben, obwohl man das nach zwei so kurzen Begegnungen natürlich nicht mit Sicherheit sagen konnte.
Er hatte einen intelligenten Eindruck auf sie gemacht, und sie fragte sich, warum er sich mit diesen zurückgebliebenen Widerlingen abgab, die mit ihm am Brunnen gesessen hatten. Er war ein ganz anderes Kaliber. Hatte er es nötig, sich mit solchen Idioten herumzutreiben? Oder war es wirklich so, wie ihre Tante behauptete, dass nämlich Ricardo einer der verkommensten Jungen weit und breit war, der bereits jetzt auf die schiefe Bahn geraten war und den bestenfalls eine Zukunft im Gefängnis erwartete? »Aber Tante Joana, wenn du ihn nicht für seine Arbeit bezahlst und wenn seine anderen Kunden es ebenfalls so halten, dann bleibt ihm wohl kaum etwas anderes übrig, als sich seinen Lebensunterhalt auf unehrlichere Art und Weise zu verdienen.« Marisa hatte nie vorgehabt, irgendwelche kriminellen Machenschaften zu entschuldigen, doch die Doppelmoral ihrer Tante zwang sie förmlich dazu. »Pah«, hatte ihre Tante erwidert, »er hätte ja zur Schule gehen können. Er müsste sich auch seinen Lebensunterhalt nicht selber verdienen, denn seine Familie hat Geld. Zumindest genug, um den Burschen zu ernähren. Tja, aber bei den Zuständen dort war es kein Wunder, dass er irgendwann in der Gosse landet …« Näher hatte ihre Tante sich nicht äußern wollen, womit sie Marisas Phantasie erst recht beflügelte.
Marisa war noch nie einem solchen Jungen begegnet, einem, der als gefährlich galt, als verkommen, als schlechter Umgang. Sie kannte in ihrer Altersgruppe nur Jungen, die aus gesitteten Verhältnissen stammten, die brav zur Schule gingen, die eines Tages einmal Arzt oder Anwalt werden würden, die mit ihren Vätern Tennis spielten, die sich von ihren Müttern einkleiden ließen und deren einzige Auflehnung gegen die Eltern darin bestand, heimlich Brigitte Bardot anzuschmachten, deren Poster sie in ihrem Spind im Sportverein aufgehängt hatten. Marisa fand es ziemlich aufregend, die Bekanntschaft eines Jungen gemacht zu haben, der ganz anders war. Ein Außenseiter. Ein Rebell. Wenn sie das erst ihrer besten Freundin erzählte!
Nun ja, rief sie sich zur Ordnung, erst musste sie ihn ja einmal näher kennenlernen. Bisher gab es nicht allzu viel zu berichten. Und dafür musste sie zu diesem Fest in Vila Seca gehen.
Während Marisa müde auf der Holzbank saß und mit dem Gedanken spielte, sich demnächst zu verabschieden und ins Bett zu gehen, kam die Lösung in Form einer leicht besäuselten älteren Frau auf sie zu. Sie setzte sich neben Marisa, wobei die Bank auf einmal bedenklich durchhing, goss sich aus einer der Karaffen, die auf allen Tischen verteilt waren, Wein nach und sprach sie an. »Muss ganz schön öde sein, so ein Fest, wo nur Alte sind, was?«
Meine Güte, was erwartete die Frau? Dass Marisa bejahte, am besten noch mit dem Zusatz, dass es eben solche Leute wie diese Frau selber es waren, die zur allgemeinen Trostlosigkeit beitrugen? Oder sollte sie lügen und vorgeben, sich prächtig zu amüsieren? Bevor Marisa ein Wort sagen konnte, redete die Frau weiter.
»Meine Kinder sind etwa in deinem Alter. Am Samstag wollen sie alle nach Vila Seca. Da solltest du auch hinkommen, es ist immer sehr lustig.«
»Ach?« Marisa war plötzlich wieder hellwach.
»Ja, mein Tiago zum Beispiel könnte dich mitnehmen. Er fährt schon Auto.«
»Das wäre … ganz wundervoll.«
»Hier gibt es nämlich nicht so viele hübsche Mädchen wie dich«, raunte die Frau ihr in einem widerlich vertraulichen Ton ins Ohr und lachte auf.
Marisa roch ihren Wein-Atem. Wollte die Alte sie etwa verkuppeln?
»Ich muss erst meine Tante und meinen Onkel fragen. Aber vielen Dank für das Angebot.« Sie rückte ein Stück von der Frau ab. »Wie heißen Sie denn eigentlich?« Sie merkte, wie unhöflich diese Frage geklungen hatte, und fügte hinzu: »Ich meine, ich muss ja meiner Tante schon sagen können, welcher Tiago da meinen Chauffeur spielen soll.«
»Ich bin Senhora Josefina Andrade.«
»Sehr erfreut, Senhora Andrade. Ich werde es mir überlegen. Aber jetzt muss ich wirklich ins Bett, ich bin hundemüde. Gute Nacht.«
»Na, Kindchen, ihr
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