So weit der Wind uns trägt
Lieber nicht – ich bin dafür nicht richtig angezogen.«
»Ich bin mit meinem Auto hier.«
»Ach?«
Er nickte und hoffte, dass er dabei nicht zu wichtigtuerisch aussah.
»Darfst du denn schon fahren?«
»Wen kümmert’s?« Er lächelte sie schief an, blinzelte ihr zu und wusste im selben Moment, dass er gewonnen hatte.
Eine halbe Stunde später wurde Ricardo von der Polizei angehalten. Einer der Polizisten fuhr mit ihnen beiden zur Wache, von wo aus er Marisas Verwandte anrief, damit sie das Mädchen abholen konnten. Ricardo behielt man noch etwas länger dort, rief aber schließlich seine Mutter an, die mit verquollenen Augen aufs Revier kam, eine Kaution hinterlegte, die Gebühren für das Abschleppen des Pick-ups berappte und Ricardo eine Ohrfeige verpasste. Erst da wachte Ricardo wirklich auf – bislang waren die Ereignisse ihm merkwürdig irreal erschienen. Das laute Klatschen der Ohrfeige jedoch sowie seine brennende Wange brachten ihm deutlich zu Bewusstsein, dass er es grandios verbockt hatte. Aus der Traum.
38
W er Frühwerke von Laura Lisboa besaß, durfte sich über einen enormen Wertzuwachs dieser Kunstwerke freuen. Heute waren Originale von LL nur noch für ein Vermögen zu haben. Ihre Gemälde hingen in den namhaftesten Museen Europas, und die meisten Liebhaber ihrer Kunst mussten sich mit signierten Drucken begnügen.
Das Erstaunlichste daran, dachte Laura, war, dass keiner der wenigen Eingeweihten ihre wahre Identität je hatte durchsickern lassen. Sie arbeitete nach wie vor mit dem Galeristen Oliveira zusammen. Die Frage war nur, wie lange noch. Der Mann war alt und wurde immer gebrechlicher. Bald würde er die Geschäfte einem Jüngeren übergeben müssen, und wer wusste schon, ob dieser Nachfolger ebenso verschwiegen war wie Oliveira. Ähnlich verblüffend fand es Laura, dass es nicht einmal beim Finanzamt eine undichte Stelle zu geben schien, doch auch da gab sie sich keinen Illusionen hin. Irgendwann würde der diskrete und ihr unbekannte Beamte durch einen jüngeren ersetzt werden, und auf dessen Korrektheit war vermutlich nicht so viel Verlass.
Über die Menschen in ihrer unmittelbaren Umgebung hingegen zerbrach Laura sich nicht den Kopf. Es war wirklich verrückt, wie blind die Leute waren. Sie sahen nicht einmal, was sich direkt vor ihrer Nase abspielte. Seit sie in den Alentejo zu Tante Mariana gezogen war, hatte niemand auch nur den geringsten Verdacht geschöpft. Dabei hatte sie in dem Trakt, den sie und Ricardo auf Belo Horizonte bewohnten und in dem sich auch ihr Atelier befand, überall Gemälde herumstehen oder an den Wänden hängen, die neben dem Datum der Fertigstellung das unverkennbare, zackige » LL « trugen. »Wenn du wenigstens so erfolgreich wärst wie diese Laura Lisboa, die du andauernd kopierst, dann wäre dein Sohn bestimmt nicht so missraten«, hatte ihr kürzlich ihr Bruder vorgeworfen. Und er war, so schien es, der Einzige, der überhaupt in die Nähe der Wahrheit kam. Die anderen hatten noch nie von LL gehört. Niemand aus der Familie ihrer Cousine Octávia las je das Feuilleton einer Zeitung, und ihr Sohn lebte ohnehin auf einem eigenen Planeten.
Die einzigen Menschen, die außer ihr und Oliveira noch Bescheid wussten, waren Jakob beziehungsweise
Jack
sowie Felipe. Beide Männer hatte sie zum Schweigen verpflichtet, und offenbar hatten sie Wort gehalten. Beide Männer zeigten sich allerdings auch zunehmend verständnislos gegenüber ihrem Wunsch, dem Jungen nichts zu sagen. Als Ricardo noch klein war, ja, da war es klar, dass er diese Art von Information besser nicht hatte, um sie nicht unfreiwillig herauszuposaunen. Aber heute? Er war gerade siebzehn geworden – und damit ohne Zweifel alt genug, um zu erfahren, dass seine Mutter eine international anerkannte Künstlerin war. Felipe drängte sie fortwährend, es Ricardo doch endlich zu sagen, und Jack, mit dem sie nur in äußerst unregelmäßigem Briefverkehr stand, drohte gar damit, es seinem Sohn selber mitzuteilen.
Vielleicht hatten sie recht. Laura befürchtete zwar, dass dieses Wissen ihrem Jungen mehr schadete, als dass es ihm guttat, aber warum nicht? Es war auf lange Sicht immer besser, mit der Wahrheit herauszurücken, auch auf die Gefahr hin, wie in diesem Fall, dass es eine verheerende Wirkung auf die labile Psyche Ricardos hatte. Sie lieferte ihm ja praktisch einen Vorwand, sich noch weniger um eine Lehre oder eine richtige Arbeit zu bemühen, wenn er erst um ihren Reichtum
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