So weit der Wind uns trägt
Ricardo nicht besonders gut Rock ’n’ Roll tanzte, juckte es ihn bei diesem Song immer in den Füßen.
Am Rand der Tanzfläche standen seine Freunde, Manuel, Joaquim und noch drei andere aus ihrer Clique, und machten hinter Marisas Rücken obszöne Gesten. Ricardo versuchte sie zu ignorieren. Ein paar Meter von ihnen entfernt stand Tiago, der dreinschaute wie ein geprügelter Hund. Sie alle beobachteten das Paar auf der Tanzfläche ganz genau. Ihnen entging nicht, wie Ricardo seine mangelnde Sicherheit mit Kraft wettmachte, indem er Marisa die abenteuerlichsten Pirouetten drehen ließ. Ihnen entging ebenso wenig, was für eine gute Tänzerin das Mädchen war, dessen Rock, Petticoat und Pferdeschwanz wild herumflogen und dem Spektakel einen mitreißenden Schwung verliehen. Und am allerwenigsten entging ihnen, was für ein hübsches Paar die beiden waren.
Als das Lied aufhörte und eine langsamere Musik gespielt wurde, verließen die beiden die Tanzfläche. Völlig aus der Puste keuchte Marisa: »Das müssen wir aber noch ein bisschen üben, was?« Und Ricardo, der sehr stolz darauf war, dass er nicht nur seinen inneren Schweinehund überwunden, sondern sogar ganz passabel getanzt hatte, antwortete, ebenfalls heftig atmend und ziemlich beleidigt, dass sie seine Tanzkünste nicht zu würdigen wusste: »
Du
vielleicht.« Dann fügte er, mit einem Blick auf den herannahenden Tiago, schadenfroh hinzu: »Und da kommt auch schon einer, mit dem du das tun kannst.«
»Oje, lass uns schnell verduften.« Sie tat so, als hätte sie Tiago gar nicht gesehen, wandte sich um und ging, Ricardo an der Hand nehmend, zu einer der Holzbänke, die unter den Platanen aufgebaut worden waren. Als sie dort ankamen, ließ sie Ricardos Hand wieder los, als hätte sie sich daran verbrannt. Auf einmal kam ihr diese Geste viel zu intim vor. Die Leute mussten ja wer weiß was von ihr halten. Sie setzte sich, warf unauffällig einen Blick zurück und stellte erleichtert fest, dass Tiago ihnen nicht gefolgt war.
»Wusstest du, dass in Amerika Bill Haley total passé ist?«, fragte sie Ricardo, nachdem sie sich ein wenig von dem anstrengenden Tanz erholt hatten und er für sie beide ein Bier geholt hatte. »Da steht die Jugend jetzt auf Elvis Presley. Der sieht viel besser aus, und er tanzt … äh, irgendwie schweinisch.«
»Woher willst du das wissen? Habt ihr etwa Fernsehen?«
»Ja, haben wir. Aber daher weiß ich es nicht – da läuft ja eh nur RTP , mit zensierten Nachrichten.«
Ricardo staunte. Erst seit März diesen Jahres, 1957 , gab es auch in Portugal Fernsehen, aber nur wenige Leute hatten ein Gerät. »Woher weißt du es dann?«
»Mein älterer Bruder studiert in den USA . Er hat uns erzählt, dass bei den Konzerten von Elvis die Mädchen in Ohnmacht fallen und so.«
Ricardo hob die Brauen in einem Ausdruck, der zu besagen schien:
hysterische Weiber
.
»Guck nicht so überheblich.«
»Tu ich doch gar nicht.« Er wusste natürlich, dass er genau so und nicht anders aus der Wäsche geschaut haben musste. Das passierte ihm ständig, unbewusst, und er hatte schon viele Menschen damit brüskiert. Aber was konnte er dafür? So sah er halt aus. Wenn die Leute sein Gesicht für arrogant hielten, konnte er es auch nicht ändern.
Danach fiel weder ihm noch ihr irgendetwas Sinnvolles mehr ein. Sie tranken schweigend, musterten sich verstohlen und waren sich der Gegenwart des anderen schmerzhaft bewusst.
Die Befangenheit zwischen ihnen wurde immer bedrückender.
»Hast du Lust, noch einmal zu tanzen?«, fragte sie schließlich, als das Bier alle war und einfach etwas gesagt werden
musste
.
»Bei
der
Musik? Besten Dank.« Es lag keineswegs an der Musik, dass er nicht mehr tanzen wollte. Es lag an den hämischen Visagen seiner Freunde, die ihn, wie er aus den Augenwinkeln wahrnahm, noch immer beobachteten, und es lag auch daran, dass sein Selbstbewusstsein als Tänzer nach ihrer Lästerei von vorhin argen Schaden genommen hatte.
»Dann verabschiede ich mich jetzt besser, oder?« Marisa hatte die Erfahrung gemacht, dass die Ratschläge ihrer Großmutter meistens gut waren. Und die hätte jetzt sicher gesagt:
Man soll immer gehen, wenn es am besten ist.
Nicht, dass es jetzt wirklich gut gewesen wäre – aber besser wurde es ganz sicher nicht mehr.
»Willst du etwa schon nach Hause?« Ricardo frohlockte. Wenn sie sich rar machen wollte, dann hatte sie sich aber geschnitten.
»Ja.«
»Soll ich dich fahren?«
»Auf deinem Roller?
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