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So weit der Wind uns trägt

So weit der Wind uns trägt

Titel: So weit der Wind uns trägt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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waren selten geworden. Ricardo wollte seine Geburtstage nicht mehr mit der Familie feiern, Hochzeiten hatten länger keine mehr stattgefunden, und die letzte Beerdigung – die von Isabel, einer Schwester ihrer Mutter, mit der sie kaum je etwas zu tun gehabt hatten – lag drei Jahre zurück.
    Die einzige Person, der Laura je wirklich nahe gewesen war, von der sie sich geliebt gefühlt hatte, war Tante Mariana gewesen. Aber die war nur noch ein Schatten ihrer selbst. Sie kümmerte vor sich hin, verloren in einer Welt, in der die Toten ebenso präsent waren wie die Lebenden, in der die Grenzen zwischen den Generationen nicht mehr vorhanden waren und in der die herkömmlichen Zeitmaßstäbe nicht mehr griffen. Zu ihr, Laura, sagte Tante Mariana immer öfter »Jujú«, was insofern verzeihlich war, als die Ähnlichkeit zwischen Laura und ihrer Mutter immer stärker wurde. Hatten sie sich noch vor einigen Jahren durch vollkommen verschiedene Frisuren und Kleidungsstile voneinander unterschieden, so hatten sich diese allmählich einander angeglichen. Hinzu kam, dass Laura älter wirkte, als sie war, während ihre Mutter für ihre 66  Jahre sensationell jung aussah. Sie hätten als Schwestern durchgehen können.
    Wie schön das hätte sein können – wenn sie zu ihrer Mutter ein schwesterliches Verhältnis gehabt hätte. Ach, es hätte ja schon gereicht, wenn sie nur ein normales Mutter-Tochter-Verhältnis hätten haben können! Aber dafür war es jetzt zu spät. Sie konnten nach drei Jahrzehnten höflicher Distanziertheit nicht plötzlich zu inniger Freundschaft übergehen, selbst wenn beide es gewollt hätten. Manchmal blitzte eine Szene vor Lauras geistigem Auge auf, in der ihre noch sehr junge und schöne Mutter ihr, Laura, die Haare bürstete. Sie hatte dabei einen populären Schlager jener Zeit vor sich hin gesummt, hatte mit Lauras Haaren gespielt und ihr dann verschiedene Frisuren gemacht, bis Laura endlich mit einer einverstanden war. Ihre Mutter hatte sie geherzt und geküsst und ihrer »kleinen Prinzessin« lauter alberne kleine Komplimente gemacht. Hatte diese Szene sich wirklich so zugetragen? Oder spielte ihre Phantasie ihr einen Streich?
    Wie hatte es passieren können, dass sie einander so fremd geworden waren? Und überhaupt: Was waren sie nur für eine merkwürdige Familie? Warum konnten sie nicht, wie ein Großteil aller Portugiesen, im engen Familienverbund leben und einander ehren oder sogar lieben? Wie hatten sie es zulassen können, dass eine solche Gleichgültigkeit gegeneinander eingekehrt war? Da waren sie nun mit allem gesegnet, von dem andere Menschen nur träumen konnten – mit Gesundheit, gutem Aussehen, Wohlstand, Erfolg – und waren nicht in der Lage, es zu genießen. Sie alle verschlossen sich beinahe mutwillig ihrem Glück. Vor lauter Angst, es könne ihnen eines Tages entfleuchen, ließen sie es erst gar nicht in ihre Seelen vordringen. Als hätten sie es nicht verdient und als würde man das Unglück geradezu heraufbeschwören, wenn man allzu frohen Herzens durchs Leben ging.
    Dabei war es ja keineswegs so, dass sie zu tiefen Gefühlen nicht imstande gewesen wären. Laura konnte sich nicht vorstellen, dass irgendein Mensch auf der Welt irgendeinem anderen Menschen mehr Liebe entgegenbrachte als sie ihrem Sohn Ricardo. Aber mit Glück hatte das wenig zu tun. Es war vielmehr eine große Bürde. Die ständige Sorge um ein geliebtes Kind führte geradewegs in eine persönliche Hölle, deren Ende nicht abzusehen war und die nur dadurch erträglich wurde, dass man die Hoffnung nicht aufgab. Kinderlose Menschen wie etwa Felipe würden das nie nachvollziehen können.
     
    Zur selben Zeit, zu der Laura auf Belo Horizonte darüber sinnierte, wann, wie und warum ihr Leben diese traurige Wendung zur seelischen Vereinsamung hin genommen hatte, sah der junge Tenente Alberto Morais angewidert einen Häftling an. Er wollte nicht sprechen? Bitte, dann würden sie sein Wissen eben aus ihm herausprügeln. Es gab kaum jemanden, der dieser Art der Befragung standhielt. Auch die störrischsten Alentejanos – und von dort kamen nun einmal die meisten Kommunisten, Aufwiegler und Atheisten – waren nicht bereit, mit ihrem Leben für den Schutz ihrer Genossen oder das Fortbestehen ihrer Sache zu bezahlen. Früher oder später redeten sie alle.
    Der Tenente betrachtete den zusammengekrümmten Leib auf dem rohen Betonfußboden. Beleuchtet wurde der Kellerraum nur durch eine nackte Glühbirne, die von

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