So weit der Wind uns trägt
wusste. Sie hatte nie gewollt, dass er aufwuchs wie sie: in Internaten, umgeben von arroganten Kindern reicher Leute und in dem Bewusstsein, dass er sich nie wirklich anzustrengen brauchte, um es zu etwas zu bringen. Mit der richtigen Herkunft und nach dem Besuch der einschlägigen Schulen ergab sich das von ganz allein. Noch viel weniger hatte sie allerdings gewollt, dass er zum sozialen Außenseiter wurde. Also gut. Viel schlimmer konnte es mit ihm ja nicht werden. Sie gab sich einen Ruck und ging zu ihm.
Sie klopfte zaghaft an der Tür. Keine Reaktion. Sie wusste, dass er da war, also klopfte sie etwas entschlossener und rief durch die geschlossene Tür: »Ich bin’s. Mach mir auf, bitte.« Er hatte die schlechte Angewohnheit, sich von innen einzuschließen. Wenig später hörte sie, wie der Schlüssel sich drehte. Er öffnete die Tür einen Spaltbreit und sah sie mit entnervter Miene an.
»Was gibt es denn?«
»Ich möchte mit dir reden. Aber nicht hier, zwischen Tür und Angel.«
Unwillig ließ er sie hinein. Laura sah sich staunend in dem Zimmer um, das sie seit beinahe einem Jahr nicht mehr betreten hatte. Nur die Putzfrau ließ Ricardo gelegentlich in sein Reich – alle anderen waren nicht willkommen. Laura hatte dies immer respektiert. Auch Jugendliche hatten ein Recht auf Privatsphäre. Dass sein Zimmer so ordentlich war, hatte sie nicht vermutet. Und ebenso wenig, dass es darin aussah wie in der Schaltzentrale eines wissenschaftlichen Instituts. An den Wänden hingen Schautafeln vom Sonnensystem und Abbildungen von Raketen. Von der Decke baumelten mehrere Modellflugzeuge, Jagdbomber zumeist. Im Regal standen unzählige Bücher, die auf dem Rücken eine Signatur trugen, anscheinend Werke aus der Leihbibliothek, die fast ausschließlich von Naturwissenschaften oder Technik handelten. Auf dem Schreibtisch und auf der Kommode war so gut wie jeder Quadratzentimeter vollgestellt mit merkwürdigen Apparaturen, von denen Laura nur eine einzige als etwas identifizieren konnte, das einmal ein Radio gewesen sein mochte.
Ricardo sah sie herausfordernd an, er rechnete wohl mit einer Standpauke.
Laura wusste nicht, wie sie einen eleganten Einstieg in das heikle Thema finden konnte. Also fragte sie gleich: »Sagt dir der Name ›Laura Lisboa‹ etwas?«
»Ja. So eine Künstlerin. Total scheiße. Warum?«
»Ach, nur so.« Sie wandte sich von ihm ab und verließ den Raum, zitternd vor Wut auf sich selber, weil es ihr im entscheidenden Moment an Courage gemangelt hatte, und mit den Tränen kämpfend, weil der einzige Mensch, dessen Urteil ihr wirklich etwas bedeutete, ihre Kunst nicht zu schätzen wusste.
Ricardo schloss die Tür hinter ihr ab und wunderte sich, warum sie ihn nicht wegen des Gebrauchs des Wortes »Scheiße« zurechtgewiesen hatte. Dass er zu gemein gewesen wäre, fand er nicht: Er musste sich schließlich auch andauernd anhören, wie unmöglich er war.
Geschäftlich war das erste Halbjahr 1958 sehr gut für Laura gelaufen. Von ihrem Privatleben konnte man das nicht behaupten. Ihr hübscher, kluger Sohn glitt immer weiter ab, und sie musste das Ganze hilflos mit ansehen. Er ließ sich von niemandem etwas sagen, am allerwenigsten von ihr. Mit Felipe stritt sie sich in letzter Zeit häufig, meist über Lappalien, was dazu geführt hatte, dass sich auch im Bett nicht mehr sonderlich viel tat. Das heißt: Es tat sich gar nichts mehr – bei ihm. Dennoch suchte Laura die Gründe für sein sexuelles Versagen bei sich. Denn
können
konnte er offensichtlich noch, seine zahlreichen Seitensprünge bewiesen das ja deutlich genug. Und genügend willige Studentinnen, die mit ihrem Professor aus Berechnung ins Bett gingen, schien es zu geben. Laura fand sich mit 41 Jahren entschieden zu jung dafür, keusch zu leben, und wenn das so weiterginge, würde sie sich vielleicht ebenfalls nach einem Liebhaber umsehen. Was sie und Felipe noch einte, war allein der gemeinsame Kampf gegen die Willkür und die Zensur des Salazar-Regimes.
Mit ihrer Familie dagegen verband sie so gut wie nichts mehr. Ihre Mutter lebte in Lissabon ihr behagliches kleines Leben als reiche Strohwitwe, ihr Vater gab in Pinhão den Lokalmatador, ihr Bruder war innerhalb der Geheimpolizei PIDE zu einem hohen Tier aufgestiegen, als welches er endlich nach Belieben in anderer Leute Angelegenheiten herumschnüffeln und seinen sadistischen Neigungen nachgeben konnte. Laura sah alle drei nur noch bei größeren Familienfeiern. Die wiederum
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