So weit der Wind uns trägt
zwar sehr erpicht darauf, endlich ihre Unschuld zu verlieren – aber doch nicht an einen dahergelaufenen Fischerburschen! Obwohl er ziemlich süß gewesen war, dieser Vitor.
Na ja, das war Ricardo auch gewesen, wenn sie sich recht entsann. Was er wohl jetzt so trieb? Nie schrieb er etwas über seinen Alltag, seine Arbeit oder seine Ziele im Leben. In seinem letzten Brief hatte er an den Beispielen von Buddy Holly und Eddie Cochran ausschweifend darüber philosophiert, warum die Besten immer jung starben – also ehrlich! Im Jahr zuvor – oder war es vor zwei Jahren gewesen – hatte er ihr die Funktionsweise des Sputnik 1 erklärt, dieser Spinner. Aber niemals hatte er viel Persönliches preisgegeben, obwohl sie sich oft genug danach erkundigt hatte. Vielleicht wäre es doch ganz lustig, der lieben Tante Joana und dem lieben Onkel António mal wieder einen Besuch abzustatten. Sie konnte ja, wenn es zu langweilig wurde, mit Ricardo ans Meer fahren. Von Beja aus waren es so um die hundert Kilometer bis zum Atlantik. Und sie musste ja nicht gleich wochenlang bleiben. Ein paar Tage, länger nicht.
Mit einer kurzen Reise in den Alentejo liebäugele ich tatsächlich
, schrieb sie.
Eventuell über Pfingsten. Bist du dann da? Es wäre nett, dich mal wiederzusehen
. Obwohl wir uns wahrscheinlich gar nichts zu sagen haben, fügte sie im Geiste hinzu. Und obwohl ich gar nicht weiß, wieso ich mich überhaupt noch mit dir abgebe, einem verkorksten Burschen aus niedrigsten Verhältnissen.
Und auch all die anderen. Was macht denn Tiago noch so? Und deine merkwürdigen Freunde Joaquim und Manuel? Hast du eigentlich eine Freundin?
Die letzte Frage hätte Marisa am liebsten wieder durchgestrichen. Aber Briefe mit durchgestrichenen Stellen verschickte sie keine, und noch einmal von vorne anzufangen erschien ihr zu viel Aufwand für einen alten Brieffreund. Egal, sollte er doch glauben, was er wollte.
Ich würde mich sehr über deine Antwort freuen und hoffe, dass wir uns bald wiedersehen. Bis dahin, schöne Grüße aus dem nasskalten Lissabon – Marisa.
Sie überflog das Geschriebene noch einmal. Das war in Ordnung. Nicht gerade ein Glanzlicht der Briefprosa, aber gut genug für diesen Bauernjungen. Bevor sie es sich anders überlegen konnte, stand sie auf, kramte Umschlag und Briefmarke aus der Schreibtischschublade, wobei sie fast die Decke von dem Tisch gerissen und dabei das hübsche Arrangement darauf zerstört hätte, und machte den Brief fertig zum Abschicken. Sie warf einen Blick auf den Reisewecker in dem lederbezogenen Klappkästchen. Fast vier, sie musste ohnehin los. Sie strich ihren Rock glatt, überprüfte den Sitz der Strümpfe, schlüpfte in ihre Pumps, zog den Lippenstift nach und machte sich auf den Weg zu ihrer Verabredung.
Ricardo bekam nur selten Post. In den letzten drei Monaten war genau ein Brief für ihn angekommen, nämlich die Aufforderung, sich zur Musterung zu melden. Was für ein Schlamassel. Er wollte sich weder von irgendwelchen Perversen zwischen die Hinterbacken glotzen lassen, noch wollte er überhaupt zum Militär. Alt genug zum Töten war er mit achtzehn, aber einen Führerschein durfte er noch keinen machen, wenn nicht der Vater ausdrücklich eine Sondergenehmigung beantragte? Was war das nur für eine bescheuerte Denkweise? Warum galt man erst mit 21 als volljährig, aber auf dem Land schon mit vierzehn als volle Arbeitskraft? Mannomann. Aber sie würden ihn kriegen, notfalls mit Gewalt. Der Einziehung entkam nur, wer Haushaltsvorstand war – mit anderen Worten, der einzige Mann im Haus – oder wer total untauglich war, sei es aus körperlichen Gründen, sei es aufgrund geistiger Zurückgebliebenheit. Das konnte er natürlich mal versuchen, sich als Schwachkopf auszugeben. Allerdings müsste er dann schon einen auf total bekloppt machen, denn Joaquim hatten sie auch genommen, und der war erwiesenermaßen strohdumm.
Ricardo fielen nur zwei Lösungen ein, wie er diesem Horror entkommen konnte, und beide hatten entscheidende Mängel. Nummer eins: Er tauchte einfach unter. Nahm sich ein Gemälde von Laura Lisboa, verscherbelte es und machte sich ein schönes Leben fernab von Portugal. Aber dann würde er nie wieder zurückkommen können, ohne vom Militär zur Rechenschaft gezogen zu werden. Nein, kam nicht in Frage. Also Nummer zwei: Er nahm sich ein Gemälde von Laura Lisboa oder auch zwei, verscherbelte sie und setzte sich in die USA ab. Dank seines Vaters würde auch er die
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