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So weit der Wind uns trägt

So weit der Wind uns trägt

Titel: So weit der Wind uns trägt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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an. Unter dem weißen T-Shirt zeichneten sich seine Muskeln ab, und Ricardo wusste, dass die Frauen sich einen gutgebauten Männerkörper gern ansahen, auch wenn sie es nur verstohlen taten. Aus alter Gewohnheit fuhr er sich mit den Fingern durchs Haar, aber da war nicht mehr viel, was er hätte verstrubbeln können. Er ging ganz nahe an den Spiegel im Flur heran, um noch einmal den Zustand seiner Haut zu überprüfen. Ja, das würde wohl so gehen. Die meisten Pickel waren abgeheilt und hatten hässliche Narben hinterlassen, aber dank seiner Sonnenbräune sah es nicht allzu schlimm aus. Dann schnappte er sich die Autoschlüssel und fuhr los, wohl wissend, dass die beiden Verkehrspolizisten, die ihn am unnachgiebigsten schikanierten, in der morgigen Pfingstprozession mitwirkten und daher heute Nacht wohl keinen Dienst hatten.
    Das Café war brechend voll. Ricardo grüßte nach rechts und nach links, während er sich den Weg zu dem letzten freien Tischchen bahnte. Er kannte fast alle anwesenden Gäste, hatte jetzt aber keine Lust, sich auf ein Gespräch einzulassen. Er setzte sich, bestellte ein Bier und behielt so gut wie möglich die Tür im Auge. Ihm war klar, dass Marisa ihn schmoren lassen würde. Weniger als eine halbe Stunde Verspätung hielten Mädchen wie sie für ehrenrührig. Als könnte der Mann dann denken, sie würden sich ihm an den Hals werfen.
    Als sie ziemlich genau dreißig Minuten nach dem verabredeten Zeitpunkt kam, gelang es ihr dennoch, Ricardo zu überraschen. Er war vertieft in eine alte Zeitschrift und schreckte hoch, als sie neben ihm stand.
    »Du hast mir nicht gerade viel Zeit gelassen«, sagte sie. Immer die Schuld anderen in die Schuhe schieben, bevor die auf dieselbe Idee kamen – das war zweifellos ein kluger Zug. Besonders im Umgang mit Männern.
    Ricardo lächelte. Sie sah hinreißend aus. »Du hättest auch ohne größeren Aufwand toll ausgesehen«, sagte er, während er aufstand und sie mit zwei Wangenküsschen begrüßte. Er überragte sie um einen halben Kopf. Damals waren sie fast gleich groß gewesen.
    »Danke. Du hast dich übrigens auch nicht schlecht gemacht.« Sie setzte sich neben ihn, schlug die Beine anmutig übereinander und betrachtete ihn ungeniert von Kopf bis Fuß. In dem gebräunten Gesicht sahen seine Augen grüner aus, als sie sie in Erinnerung hatte, und die Zähne weißer. Die kurzen Haare standen ihm gut, und das T-Shirt, unter dem man deutlich die eckige Brust sah, erst recht. Sie fand ihn atemberaubend, und nicht einmal die Aknenarben konnten seinem guten Aussehen etwas anhaben. Im Gegenteil: Ohne sie wäre er vielleicht zu hübsch, zu glatt gewesen. Sie verliehen ihm einen Hauch von Gemeinheit, von Härte. Nur eine Spur, aber genug, um ihn wie einen Mann wirken zu lassen und nicht wie einen Jungen.
    Ricardo beobachtete Marisa bei ihrer Musterung mit hochgezogener Augenbraue. »Soll ich aufstehen und mich herumdrehen?«, fragte er schließlich. Ihre Verlegenheit war so offensichtlich, dass es ihm sofort leidtat.
    »Scheint dir gut ergangen zu sein, in den drei Jahren«, wich sie ihm aus.
    »Man tut, was man kann.« Teufel auch!, rief er sich zur Ordnung. Er konnte doch nicht mit ihr reden wie mit Joaquim, in abgedroschenen Phrasen und nichtssagenden Satzfetzen. »Ehrlich gesagt, so besonders läuft es derzeit nicht. Ich bin jetzt beim Militär.«
    »Ach so.«
    »Und du?«
    »Ich bin nicht beim Militär.«
    Sie sahen einander an und lachten aus vollem Hals. Das Eis war gebrochen.
    Die nächsten zwei Stunden vergingen wie im Flug. Sie erzählten einander von ihren Familien, von ihren Plänen, von ihren Ängsten und von ihren Träumen. Sie sprachen über Musikbands mit demselben Ernst, den sie auch für die Ewigkeit und Gott und die Religion aufbrachten, und sie diskutierten mit der gleichen Hingabe über neue Kinofilme, mit der sie über die Kolonialpolitik Portugals redeten. Nie zuvor hatte Ricardo sich in der Gegenwart eines Mädchens so wohl gefühlt, nie hatte er sich von einem anderen Menschen so verstanden gewusst. Ausgerechnet, dachte er. Ausgerechnet eine verwöhnte Tussi aus der Stadt erwies sich als die Person, die geradewegs in seine Seele zu blicken schien.
    Marisa erging es ebenso. Er war kein gewöhnlicher Dorfjunge, schoss es ihr durch den Kopf. Er sah besser aus als die meisten und hatte eindeutig mehr in der Birne, Schulausbildung hin oder her. Er war der erste Gleichaltrige, für den sie sich interessierte. Er war sogar ein paar Monate

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