So weit der Wind uns trägt
so pleite, dass er auch nicht tanken konnte. Jetzt jedenfalls noch nicht. Um zwei Uhr hatte er einen Termin mit Senhor Pedro von der Eisdiele vereinbart, um sich eine defekte Eismaschine anzusehen. Er würde auf Vorkasse bestehen, und eine große Waffel mit Schokoladen- und Erdbeereis würde er als Trinkgeld dankend annehmen. Bis dahin musste er hier schmoren und darauf hoffen, dass Joaquim weiterhin den Laufburschen für ihn spielte und ihm klaglos einen Becher Wasser nach dem anderen vom Trinkbrunnen holte. Es gab nur eine Sache, nach der ihn noch mehr dürstete als nach Wasser.
Seit der Episode mit Marisa, die ein so klägliches Ende genommen hatte, war Ricardo in sich gegangen. Er hatte feststellen müssen, dass Marisa wahrscheinlich recht hatte. Ohne Schulabschluss und Berufsausbildung würde er in hundert Jahren noch am Brunnen herumhängen und sich Hundehaufen ansehen müssen. Also hatte er beschlossen, etwas zu unternehmen.
Er war jetzt siebzehn Jahre alt. Die Schulbank konnte und wollte er nicht mehr drücken – er hatte ja mit zehn schon mehr auf dem Kasten gehabt als seine Lehrer. Für ein Universitätsstudium hatte er, mangels eines abgeschlossenen Besuchs des
liceu
, keine Zugangsberechtigung. Konnte man die vielleicht auf andere Art und Weise erwerben? Womöglich gab es Eignungstests? Ricardo war sich hundertprozentig sicher, dass er alle Prüfungen in Mathematik und Physik mit Bravour bestanden hätte. Andererseits: Sollte er wirklich kostbare Zeit vertrödeln, indem er an der Uni herumhing und sich mit den Theorien antiker Gelehrter beschäftigte? Ihm waren die praktischen Aspekte wichtiger. Also doch eine Lehre. Aber allein beim Gedanken an die Autowerkstatt von José Pinto schauderte es ihn. Niemals! Die Demütigungen, die ihn dort von Seiten des Meisters erwarteten, würde er ohnehin nicht länger als drei Tage ertragen.
Solange Ricardo zu keinem vernünftigen Entschluss gelangte, hatte er sich wenigstens seiner Bildung angenommen. Man wusste nie, wofür es gut war. Und Spaß machte es ihm obendrein. Während er die Nächte schon immer gern mit seinen Tüfteleien verbracht hatte, beschäftigte er sich neuerdings tagsüber mit Büchern. Zumindest, wenn er nicht gerade irgendwelche Aufträge erledigte. Joaquim und Manuel, die Trottel, lachten ihn aus, doch das war Ricardo egal. Die Hauptsache war, dass Marisa ihn nicht länger als dummen Jungen belächelte. Nächstes Jahr, wenn sie vielleicht wieder ihre Ferien bei ihrer Tante verbringen durfte – in diesem Jahr hatten die Eltern sie den Sommer über nach England geschickt, wie sie ihm geschrieben hatte –, wollte er sie mit einem Wissen beeindrucken, über das in Beja kein Zweiter verfügte.
Fast jeden Tag ging er in die Stadtbücherei und sog wie ein trockener Schwamm alles an Informationen auf, was er in die Finger bekam. Er verschmähte schöngeistige Literatur, aber kein Mathematiklehrbuch, kein ingenieurwissenschaftliches Lexikon, kein Technikratgeber und kein Biologiehandbuch war vor ihm sicher. Dona Aldora kannte Ricardo gut und legte ihm neue Bücher, die ihn interessieren mochten, gleich beiseite. Sie fand es außerordentlich bedauerlich, dass ein Junge mit seinem Wissensdurst und mit seinen Fähigkeiten auf die vergleichsweise spärliche Auswahl an Publikationen angewiesen war, die ihm in dieser Bücherei zur Verfügung stand.
Auch den Umstand, dass der Junge sich ganz ohne pädagogische Anleitung Wissen aneignete, betrachtete sie kritisch. Er konnte doch keine englischen Sprachkenntnisse erwerben, indem er Wörterbücher auswendig lernte! Aber genau das schien er zu tun, und soweit Dona Aldora das beurteilen konnte, war er bereits bei dem Buchstaben P angelangt. Einmal hatte sie ihn gefragt, warum er denn immer das Wörterbuch aufgeschlagen neben sich liegen hatte, wenn er doch portugiesische Bücher las. Obwohl der Junge extrem verschlossen war, hatte er sie angegrinst und gesagt: »Damit ich genau das bald nicht mehr tun muss.« Woraus Dona Aldora geschlossen hatte, dass er die amerikanischen Fachpublikationen lesen wollte, von denen sie leider nur eine äußerst überschaubare Zahl führten.
Um genau 15 . 30 Uhr trafen Ricardo und Dona Aldora in der Bücherei ein. Die Bibliothekarin unterzog Ricardo einer genauen Musterung und befand schließlich aufgebracht: »Mit diesen schwarzen Händen lasse ich dich nicht an meine Bücher!«
Beschämt betrachtete Ricardo seine Hände. Die Alte hatte recht. Gottverdammte Eismaschine!
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