So weit der Wind uns trägt
Die Reparatur hatte viel länger gedauert als vorgesehen, eine nachträgliche Erhöhung seines Lohns hatte der Eismann kategorisch abgelehnt, und jetzt bekam Ricardo auch noch Probleme wegen seiner ölverschmierten Finger. »Schon gut, ich gehe sie schrubben. Aber toll werden sie hinterher auch nicht aussehen.«
Als Ricardo wenig später zurückkam, nahm ihn Dona Aldora noch strenger unter die Lupe als zuvor. Es irritierte ihn ungeheuer. »Was ist denn jetzt wieder? Muss man ein feiner Pinkel sein, um ein Scheißbuch zu lesen?« Er wusste, dass er sich mit solchen Reden keinen Gefallen tat. Und eigentlich hatte die alte Jungfer einen solchen Ton auch nicht verdient – sie war ganz okay, obwohl sie nicht danach aussah.
»Mäßige dich, Ricardo da Costa!« Dona Aldora sah ihn aus zusammengekniffenen schlauen Augen an. »Und nimm dir ein Beispiel an deinem Großvater. Der ist ein echter Kavalier.« Während Ricardo im Waschraum gewesen war, war Dona Aldora plötzlich ein Licht aufgegangen. Auf einmal hatte sie gewusst, weshalb der nette Senhor Abrantes einen so vertrauten Eindruck auf sie gemacht hatte. Der Junge war ihm wie aus dem Gesicht geschnitten, wenngleich es selbstverständlich einer geschulten Beobachtungsgabe wie der ihren bedurfte, um diese Ähnlichkeit zu entdecken. Die großen Unterschiede in Alter und Kleidung, die Brille des einen und die Pickel des anderen, da musste man schon sehr genau hinsehen, um die Verwandtschaft zu erkennen. Aber war man in der Lage zu abstrahieren, dann war sie unübersehbar.
»Sie kennen meinen Großvater doch gar nicht!«
»Und ob ich das tue. Er war heute Morgen hier in meiner Bibliothek.«
»So ein
bullshit!
«, entfuhr es Ricardo.
Die arme Dona Aldora sah ihn entgeistert an. Sie verstand das Wort zwar nicht, war aber davon überzeugt, dass es sich nur um einen weiteren Kraftausdruck handeln konnte.
»Wenn du weitere ungehörige Wörter in den Mund nimmst, werde ich dich nicht einlassen.«
»Verzeihen Sie, Dona Aldora«, sagte Ricardo mit aufgesetzter Zerknirschtheit, »aber es kann nicht mein Großvater gewesen sein. Der lebt im Norden, am Douro, und zufällig weiß ich genau, dass er sich auch heute dort aufhält.«
»Na, du wirst ja wie jeder Mensch zwei Großväter haben. Vielleicht war es der andere.«
»Der ist vergast worden.«
»Himmel, steh mir bei!« Dona Aldora bekreuzigte sich. Dann schaute sie Ricardo scharf an. Das nahm sie ihm nicht ab. Er hatte ihr absichtlich eine so schändliche Lüge erzählt, um sie damit zu schockieren. Aber da hörte der Spaß nun wirklich auf. Mit solchen Dingen machte man keine Scherze. »Ich schlage vor, du gehst jetzt nach Hause und denkst darüber nach …«
»In Auschwitz«, unterbrach er sie.
Dona Aldora schloss die Augen und hob das Gesicht gen Himmel.
Senhor, schenke mir Geduld mit diesem Jungen!
»Ich schlage also vor, du beschäftigst dich einmal im stillen Kämmerlein mit dem, was von deiner Wahrheitsliebe übriggeblieben ist. Wenn du dich morgen in aller Form bei mir entschuldigst, werde ich ein Auge zudrücken und dich die Bibliothek weiterhin nutzen lassen.«
»Und wenn nicht?«
»Wenn nicht? Aber das steht gar nicht zur Debatte!«
»Doch. Ich habe die Wahrheit gesagt und sehe nicht ein, mich dafür zu entschuldigen. Wenn überhaupt, dann könnte ich darüber nachdenken, mich für die Verletzung Ihres Zartgefühls zu entschuldigen.«
»Wie du meinst. Aber wenn du mir das nächste Mal unter die Augen trittst, dann bringe bitte die Bücher mit, die du hier gestohlen hast. Wenn nicht, werde ich dich der Polizei melden. Was ich eigentlich schon längst hätte tun sollen.«
Diesmal war es an Ricardo, Dona Aldora entgeistert anzublicken. Hatte die alte Schnepfe die ganze Zeit gewusst, dass er Bücher entwendete? War sie gar nicht so blöd, wie er immer geglaubt hatte? Und wenn sie so blöd nicht war – was hatte es dann mit diesem ominösen »Großvater« auf sich?
Wortlos wandte er sich von der Theke ab und verließ die Bücherei. Sein Stolz verbot es ihm, in dieser verfahrenen Lage auch noch nachzufragen.
40
M arisa ließ sich in den Cocktailsessel fallen, den sie von ihren Eltern zu ihrem neunzehnten Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Die Füße legte sie auf den gelb-grau schraffierten Nierentisch, den sie ihnen im Jahr zuvor abgeschwatzt hatte. Allmählich sah ihr Zimmer wirklich schick aus. Nur den uralten Schreibtisch, aus braunschwarzem Jacaranda-Holz und mit alptraumhaften Schnörkeln in
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