So weit der Wind uns trägt
amerikanische Staatsbürgerschaft erhalten. Oder etwa nicht? Das größte Problem hierbei war, dass es ihm widerstrebte, kleinlaut vor Jack angekrochen zu kommen. Er, Ricardo da Costa, bat
nie
jemanden um einen Gefallen. Am allerwenigsten seinen Vater, dem er seit Jahren schriftlich mitteilte, dass er ihn nicht persönlich kennenzulernen wünschte. Das hatte er nun davon.
Und überhaupt waren beide Alternativen undenkbar. Seine Oma Mariana würde verhungern oder vor Kummer sterben, wenn er sie nicht weiterhin mit Schokolade fütterte.
Als Ricardo den Umschlag sah, den irgendjemand unter seiner Tür durchgeschoben hatte und der mit der Anschriftseite nach unten auf dem Boden lag, wurde ihm im ersten Augenblick klamm ums Herz. Bestimmt eine nachdrücklichere Aufforderung, zur Musterung zu kommen. Mit Androhung eines Bußgeldes womöglich. Doch dann hob er den Umschlag auf und nahm aufatmend zur Kenntnis, dass er von Marisa war. Ihre Schrift kannte er inzwischen gut, er hatte im Laufe der Jahre sicher an die zehn Briefe von ihr bekommen. Nicht viel, zugegeben, aber genug, um seine Hoffnung auf ein Wiedersehen aufrechtzuerhalten.
Er riss das Kuvert auf und entnahm ihm einen kleinen Bogen, der nur halb beschrieben war. Ihre Briefe wurden immer kürzer, bald würde ihr Briefwechsel völlig einschlafen. Ach, es gab ja noch andere hübsche Mädchen. Amália zum Beispiel, deren Brüste sich zu
Mördertitten
entwickelt hatten und die passenderweise in der
leitaria
arbeitete, dem Milchgeschäft ihrer Eltern. Seit seine Haut wieder halbwegs okay war, machte sie ihm deutliche Avancen. Wenn es stimmte, was behauptet wurde, dass nämlich die dümmsten Mädchen am besten im Bett waren, dann musste Amália die reinste Granate sein. Ricardo bezweifelte allerdings, dass da etwas dran war. Wenn ein Mädchen den Mund aufmachte und es kam nur ein blödes Blöken heraus, verlor er jedes Interesse an ihr. Er fand Schlauheit sexy. Das einzige Mädchen, mit dem er je etwas gehabt hatte, war ebenso tumb wie verklemmt gewesen, wobei Letzteres auch auf ihn selber zugetroffen hatte. Es war nicht die Art von Erfahrung, die er unbedingt wiederholen musste. Die Nächste wäre eine Oberschlaue, am besten noch mit Brille.
Doch aus dem Brief von Marisa sprach bedauerlicherweise auch kein großer Grips. Meine Güte, wie konnte sie nur einen so kindischen Brief abschicken? Es war schade um das Porto. Gut, sie hatte sich eindeutig keine besondere Mühe gegeben, das sah er schon an der Schrift. Wenn sie wirklich käme, würde er ihr gerne Gelegenheit geben, zu beweisen, dass sie nicht die verwöhnte Pute war, als die sie sich, vielleicht unfreiwillig, darstellte. Pfingsten, wann war das überhaupt? Ricardo taperte in die Küche, wo ein zwölfseitiger Kalender hing, mit dem Aufdruck eines Abschleppunternehmens und mit Bildmotiven von exotischen Rallyes. Er selber hatte ihn dort aufgehängt, und niemand hatte sich die Mühe gemacht, ihn wieder abzuhängen. So wie sich hier ja sowieso keiner mehr Mühe mit irgendetwas gab. Sílvia und Xavier waren zum Studieren fortgezogen, Inácio war die meiste Zeit außer Haus, Octávia trank heimlich, und Oma Mariana war ans Bett gefesselt. Sie verlotterten allesamt. Ohne das Geld seiner Mutter säßen sie alle längst auf der Straße.
Ricardo nahm den Kalender von der Wand und blätterte ein paar Monate vor. Da, im Juni. Prima, dann konnten sie gleich seinen Geburtstag gemeinsam feiern. Wenn er dann nicht schon in den Fängen des Militärs war. Ein ironisches Lächeln umspielte seine Lippen: Na, dieser Besuch war doch wenigstens
ein
Grund, im Land zu bleiben und sich der Einziehung nicht zu widersetzen. Wenn er denn wirklich zustande kommen sollte.
Marisa kam. Sie legte dabei einen Auftritt hin, von dem die Gegend noch tagelang sprach. Als Marisa am 4 . Juni 1960 , dem Samstag vor Pfingsten, mit ihrem kleinen Flitzer in die Ortschaft düste, war sie so schnell, dass sie auf einen Eselskarren – die sie wohl aus der Stadt nicht gewohnt war und deren Tempo sie wahrscheinlich überschätzte – auffuhr. Der Karren kippte um, und zwar genau auf einen Marktstand am Straßenrand, an dem eine Familie aus dem Umland Töpferwaren feilbot. Alle Gefäße, die vom Karren selber nicht zerschlagen worden waren, fielen den herabkullernden Melonen zum Opfer. Es war eine Riesensauerei und ein noch größeres Gezeter. Der Melonen-Bauer, sein Esel, die Töpferfamilie – alle schrien durcheinander. Die Leute beschuldigten
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