So weit der Wind uns trägt
unaufgefordert aufzukreuzen? Was, wenn er Ricardo gesehen hätte? Sie selber hatte den Abgang Ricardos als ausgesprochen unhöflich und unzivilisiert empfunden, aber im Nachhinein war sie froh darüber. Gar nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn die beiden sich gegenübergestanden hätten!
»Aha«, stellte Laura lakonisch fest. »Scheint ja kein besonders guter Bekannter gewesen zu sein, wenn er nicht mal stehen bleibt, um zu kondolieren.«
»Nein.«
Nur dein Vater
, dachte Jujú.
42
C arolina Cardoso stopfte die Kissen in ihrem Rücken zurecht und lehnte sich zurück. Die Couch war ein guter Kauf gewesen, sie war gemütlich. Carolina war stolz auf sich. Sie arbeitete nun seit fünf Jahren als Stenotypistin und war bereits in der Lage, sich eine eigene kleine Wohnung so komfortabel einzurichten. Von ihren Kolleginnen hatte das noch keine geschafft. Die Raten für das Fernsehgerät musste sie zwar noch abstottern, aber sie war fleißig und sparsam, so dass diese Schulden ihr keine Sorgen bereiteten. Die Anschaffung hatte sich wirklich gelohnt. Gab es etwas Besseres, als nach getaner Arbeit auf dem Sofa zu sitzen, vor sich ein Glas Wein sowie die Aussicht auf mehrere Stunden angenehmer Unterhaltung?
Natürlich kamen auch viele Sendungen, die Carolina nicht die Bohne interessierten. Doch sogar die sah sie sich an oder ließ sie nebenher laufen, wenn sie sich in ihrer winzigen Kochnische das Abendessen zubereitete oder wenn sie bügelte. Es war schön, dass der Fernseher ihr Gesellschaft vorgaukelte, wo vorher nur Einsamkeit und Leere gewesen waren. Und weil sie jeden Abend fernsah, brauchte sie nicht einmal mehr die Zeitung zu kaufen. Alles, was sie an Informationen benötigte, um im Büro nicht als vollkommen unwissende, dumme Kuh dazustehen, lieferte ihr das TV -Gerät, ohne dass es ihr die geringste Anstrengung abverlangt hätte.
Was hatte sie allein in diesem Jahr, 1961 , alles erfahren, was ihr früher entgangen wäre! Im April hatten die Russen einen Kosmonauten namens Juri Gagarin in einer Rakete um die Erde gejagt; etwa um die gleiche Zeit war den glücklosen Amerikanern, die bislang im Wettlauf um die Eroberung des Weltalls immer hinter den Russen zurückgelegen hatten, auch noch eine Invasion auf Kuba missglückt – Carolina hatte sich nur den blöden Namen »Schweinebucht« gemerkt, jedoch keine weiteren Details. Sie hatte vor allem Mitleid mit dem neuen amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy, den sie überaus attraktiv fand. Allerdings zeigte man den Mann nicht immer von einer vorteilhaften Seite, seit er, zusammen mit de Gaulle, gegen Portugals Kolonialpolitik stänkerte. Das ging ihn ja auch wirklich nichts an, was Salazar für Pläne mit Angola hatte, oder?
In Deutschland hatte man mit dem Bau einer Mauer mitten durch Berlin begonnen, was Carolina mehr als befremdlich fand. Sie brauchte sich nur vorzustellen, man würde eine Mauer durch Lissabon ziehen, die zum Beispiel die Baixa vom Chiado trennte, um das ganze Unterfangen als kompletten Unfug abzutun. Bestimmt würde diese Mauer nicht lange stehen. Es war außerdem der Schriftsteller Hemingway gestorben, den sie nicht kannte, sowie der Schauspieler Gary Cooper, den sie verehrte. Sie hatte geweint, als sie von seinem Tod erfuhr. Das Thema, das derzeit die Nachrichten beherrschte, war die Invasion indischer Truppen in der portugiesischen Kolonie Goa. Diese Unmenschen – konnten sie nicht einmal in der Adventszeit Ruhe geben? Man musste doch nicht gerade im Dezember ein katholisches Land überfallen! Doch Carolina Cardoso zerbrach sich auch darüber nicht lange den Kopf. Was gingen sie schon die fernen Kolonien an? Viel schöner waren doch die romantischen Komödien, die im Fernsehen liefen. Und heute Abend kam ein Film, den sie auf keinen Fall verpassen wollte. Ihr Lieblingsschauspieler trat darin auf: Ronaldo Silva.
Ah, was für ein Bild von einem Mann! Zugegeben, seine Hautfarbe war ein bisschen zu dunkel, um ihn als Bräutigam in Betracht zu ziehen, dennoch gab Carolina sich manchmal diesem Tagtraum hin. Er war ledig, so viel wusste sie. Und wäre sie nicht die ideale Frau für ihn? Jung, gesund, tüchtig, ehrlich und ganz gewiss nicht auf sein Geld aus oder gar darauf, sich in seinem Ruhm zu sonnen. Nein, sie würde ihm seine Lieblingsgerichte kochen, würde ihn jeden Tag mit einem anderen Kuchen überraschen und ihm all die Wärme und Geborgenheit geben, die er in diesem leichtlebigen Filmgeschäft bestimmt nie kennengelernt
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