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So weit der Wind uns trägt

So weit der Wind uns trägt

Titel: So weit der Wind uns trägt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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Ricardo nach draußen.
    »Ich wollte das nicht vor all den andern da drin sagen. Es ist so, äh, also, Sie sollten wissen, dass Oma Mariana ganz zum Schluss von Ihnen gesprochen hat.«
    Jujú hielt sich an der Lehne eines morschen Korbsessels fest. Sie hatte das Gefühl, ihre Knie würden einknicken. Sie ahnte, was jetzt kam. Doch sie bewahrte Haltung. In scheinbar gelassenem Ton fragte sie nach: »Ach ja? Konnte sie denn noch sprechen?«
    »Nein, nicht mehr richtig. Aber sie hat etwas von Nando und Ju gebrabbelt.«
    Jujú stockte der Atem.
    »Na ja, mit Nando meinte sie wahrscheinlich mich. Sie hat mich öfter Fernando genannt. Keine Ahnung, warum. Und Ju kann ja wohl nur Jujú bedeutet haben. So hat sie Sie doch immer genannt, oder?«
    »Und? Weiter?«
    »Nichts weiter. Mehr hat sie nicht sagen können. Ich dachte, es ist Ihnen ein Trost, dass Oma Mariana in Gedanken bei Ihnen war, kurz bevor sie starb.«
    Tränen traten in Jujús Augen. Sie zog sich einen der Korbstühle heran und ließ sich darauf fallen.
    »Setz dich, Ricardo.« Beinahe wäre ihr ebenfalls »Fernando« herausgerutscht. Die Ähnlichkeit zwischen dem Jungen und seinem Großvater wurde von Jahr zu Jahr größer. Und immer unheimlicher. Es fiel ihr schwer, ihn wie ihr Enkelkind zu betrachten und zu behandeln.
    »Hat dir Mariana je erzählt, wer Fernando war?«, fragte sie, nachdem auch er sich auf einem der unansehnlichen Stühle niedergelassen hatte.
    »Nein, und ich habe auch nie danach gefragt. Ich dachte, es täte ihr vielleicht weh, darüber zu sprechen. Ich habe angenommen, dass es ein Verflossener oder so war.«
    Jujú war hin- und hergerissen. Die Gelegenheit, Ricardo jetzt die Wahrheit zu enthüllen, war ideal. Wer wusste schon, wann sie jemals wieder unter vier Augen miteinander sprechen würden? Es wäre leicht gewesen, jetzt an den Faden anzuknüpfen und einfach nur zu sagen:
Nein, es war nicht ihr Verflossener. Es war mein Verehrer. Er ist Lauras Vater – und dein Großvater.
Zugleich war die Versuchung groß, jetzt und für immer Stillschweigen zu bewahren. Mariana hatte Wort gehalten. Sie hatte Ricardo nie die ganze Wahrheit erzählt. Nur aufgrund ihrer zunehmenden geistigen Verwirrung hatte sie begonnen, den Jungen mit Fernando zu verwechseln, hatte damit aber nicht einmal einen Verdacht ausgelöst.
    Ricardo beobachtete das Mienenspiel seiner Großmutter. Irgendetwas brannte ihr auf den Nägeln, das sah er. »Wer war er denn nun?«, platzte er ungeduldig heraus.
    »Ach, ein alter Freund«, erwiderte Jujú spontan. »Du siehst ihm ein bisschen ähnlich.« Sie atmete hörbar aus. Die Entscheidung war gefallen. Sie würde es ihm nicht hier und heute sagen. Wie hatte sie je auf diesen abwegigen Gedanken verfallen können? Schließlich musste sie es, wenn überhaupt, erst ihrer Tochter sagen. Und die konnte dann entscheiden, was sie mit ihrem Wissen tat, ob sie es an Ricardo weiterreichte oder nicht. Das wäre dann nicht mehr ihr, Jujús, Problem. Sie lächelte den Jungen an. »Alte-Leute-Sachen. Wir werden im Alter alle ein bisschen verrückt. Wehmütig. Wir denken an Menschen von früher zurück. Mach dir darüber keine Gedanken.«
    »Na schön. Dann … gehen wir am besten wieder rein.«
    »Ja. Aber danke, dass du es mir gesagt hast. Ich habe Mariana sehr geliebt.«
    Ricardo hob verächtlich die Brauen und wandte sich ab. Sie log. Diese Frau war die personifizierte Selbstverliebtheit, und es ging weit über sein Vorstellungsvermögen hinaus, dass sie jemals einen anderen Menschen als sich selbst hätte lieben können.
     
    Die Beisetzung fand im engsten Familienkreis statt, der immerhin aus fünfzehn Personen bestand. Es war der Freitag nach Pfingsten, und für Anfang Juni war es ein sehr heißer Tag. Der strahlend blaue Himmel passte nicht zu dem Anlass. Die Sonne brannte auf den Schultern der schwarz gekleideten Trauernden, und manch einer wischte sich den Schweiß aus der Stirn. Ricardo machte die Hitze wenig aus. Umso mehr litt er darunter, dass er nicht in der ersten Reihe stehen durfte. Auf einmal zählte der Verwandtschaftsgrad mehr als alle Zuneigung, war die Zusammensetzung des Blutes wichtiger als der empfundene Schmerz. Was hatten die anderen Kinder Marianas, lauter ihm halb fremde Menschen um die fünfzig, schon geleistet, um ganz vorn ihre falsche Trauer zur Schau zu stellen und als Erste ihre Blumen auf den Sarg werfen zu dürfen? Nichts. Sie kannten ja noch nicht mal die Lieblingsblumen von Oma Mariana. Er kannte sie.

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