So weit der Wind uns trägt
Und er würde sie ihr auf ihrem letzten Weg mitgeben. Nougatpralinés in Rosenform.
Als Ricardo endlich an der Reihe war, trat er nach vorn, warf seine »Blumen« in das Grab, wo sie mit einem unanständig lauten Geräusch auf den Sargdeckel prallten, und verließ unmittelbar danach die kleine Trauergemeinde. Sie starrten ihm nach. Bestimmt dachten sie, er hätte irgendetwas Ungehöriges in das Grab geworfen und es deshalb so eilig gehabt, hier fortzukommen. In Wahrheit wollte Ricardo nur nicht, dass jemandem seine feuchten Augen auffielen. Er sprang in den Pick-up und machte, dass er wegkam.
Auf dem schmalen Weg, der vom Friedhof fortführte, wäre er fast mit einem anderen Wagen zusammengestoßen. Beide Autos waren zu schnell, und anscheinend war auch der andere Fahrer nicht sehr konzentriert gewesen. Ricardo holperte durch das Gestrüpp am Straßenrand und sah aus dem Augenwinkel nur noch, dass der andere Fahrer ein alter Mann war. Gemeingefährlich waren sie, diese alten Knacker. Ab sechzig dürfte man keinen mehr hinters Lenkrad lassen.
Fernando erreichte den Friedhof zu früh. Sie waren alle noch da. Fast alle – ein junger Rowdy hatte vorzeitig das Weite gesucht. Er hatte ihn wegen der Spiegelung in der Windschutzscheibe nicht gut erkennen können, aber er schätzte, dass es sich um Ricardo handelte, Jujús missratenen Enkelsohn. Fernando hatte vermeiden wollen, hier den Angehörigen über den Weg zu laufen. In der Traueranzeige war ausdrücklich vom engsten Familienkreis die Rede gewesen, und solange er Mariana auch gekannt hatte, ein Verwandter war er nun einmal nicht.
Er blieb in seinem Auto sitzen und beobachtete die Gruppe, die sich nun allmählich auflöste und Richtung Ausgang ging. Da war Jujú, unverkennbar in ihrem feinen Kostüm, dem großen Hut und der Sonnenbrille. Gleich neben ihr ging Laura, ihre Tochter, ebenfalls eindeutig für Fernando zu erkennen: Ihre Ähnlichkeit mit Jujú war frappierend. Allerdings fehlte Laura die glamouröse Ausstrahlung ihrer Mutter. Der Mann neben Laura musste Felipe sein. Jujú hatte ihm erzählt, was dem armen Kerl widerfahren war, doch auch ohne dieses Wissen erkannte Fernando auf den ersten Blick, dass es sich um einen gebrochenen Mann handelte. Felipe musste klar gewesen sein, dass er auf dieser Beerdigung Paulo wiedersehen würde, und Fernando fragte sich, was jetzt wohl in den Köpfen eines PIDE -Opfers und dessen Folterknecht vorgehen mochte.
Paulinho
, dieser Verbrecher, war mit seiner Familie da. Hübsche Frau, ansehnliche Kinder. Sie hielten deutlichen Abstand zu seiner Schwester und ihrem Verlobten. Die anderen Leute kannte Fernando nicht. Das waren sicher Marianas Kinder mit ihren jeweiligen Familien. Gramgebeugt wirkte keiner von ihnen. Hinter ihnen kam Rui den Weg entlanggeschlendert, als handelte es sich um einen netten Feiertagsausflug. Er sah gut aus, lächelte versonnen vor sich hin und brachte Fernando damit zur Weißglut. Weder Rui noch ein anderer Trauergast gönnte ihm, Fernando, der sich hinter einer Zeitung in seinem Wagen verschanzt hatte, auch nur einen Blick. Gut so.
Fernando wartete noch ein paar Minuten, bevor er seine Sonnenbrille aufsetzte und ausstieg. Er hatte Jujú und ihre Tochter nicht wegfahren sehen, aber da sie weder an dem frischen Grab standen noch irgendwo sonst zu entdecken waren, hielt er es für wahrscheinlich, dass sie sich nicht mehr hier aufhielten. Doch auf dem Weg zu Marianas Grab sah er sie plötzlich – Jujú stand mit traurigem Gesicht am Grab ihrer Eltern, ihre Tochter und deren Verlobter befanden sich ein paar Schritte hinter ihr, wie es schien, um Jujú in diesem Moment mit sich und ihren Gedanken allein zu lassen. Ja, dachte Fernando, nun erfuhr auch sie, wie es war, wenn die Eltern und alle Geschwister tot waren, wenn man der einzige Überlebende einer Generation war, die von den Jüngeren nur noch als Last empfunden wurde.
Er schlich über den Kiesweg und hoffte, dass niemand seine Gegenwart bemerkte. Doch Jujú sah ihn und zuckte zusammen. Er nickte ihr zu, sie nickte zurück. Mehr nicht.
»Wer war das?«, fragte Laura ihre Mutter. »Kennst du den Mann?«
»Ach, ein uralter Bekannter von früher.« Jujú beglückwünschte sich im Stillen für ihre Verstellungskünste, die sie im Laufe der Jahrzehnte perfektioniert hatte. Es gelang ihr fast immer, nach außen teilnahmslos oder wenigstens gefasst zu wirken, auch wenn es in ihrer Seele tobte. So wie jetzt. Was fiel Fernando nur ein, hier
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