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So weit der Wind uns trägt

So weit der Wind uns trägt

Titel: So weit der Wind uns trägt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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charakterloser Mensch Ronaldo war! Und er selber ebenfalls. Hatte er nicht genauso herzhaft gelacht über die linkischen Formulierungen und die kleinbürgerliche Rechtschaffenheit, die einen aus jeder Zeile ansprang? Jetzt tat es Rui leid. Er setzte sich an den Schreibtisch, nahm einen Bogen hellblauen Büttenpapiers und begann mit seinem feinen Füllfederhalter zu schreiben.
    Meine liebe Carolina,
    haben Sie vielen Dank für Ihre freundlichen Zeilen. Es ist schön zu wissen, dass unter den vielen Fernsehzuschauern auch eine so tugendhafte junge Dame wie Sie ist. Leider kann ich aufgrund meiner zahlreichen Verpflichtungen Ihre Einladung nicht annehmen. Doch seien Sie versichert, dass ich künftig bei jeder Rolle, die ich spiele, auch an Sie denken werde – und bei jeder Drehpause an Ihre zweifelsohne fabelhafte açorda de mariscos.
    Mit herzlichen Grüßen, Ihr Ronaldo Silva.
    Rui hatte ein schlechtes Gewissen, als er den Brief in einen Umschlag steckte, adressierte, frankierte und dann auf die Konsole im Flur legte, damit er ihn bei seinem nächsten Spaziergang nicht vergaß. Wer wusste schon, was er bei dem armen Mädchen anrichtete, wenn er es glauben ließ, dass es Ronaldo mit seinem Brief eine Freude bereitet hatte? Nachher würde es ihn mit weiteren Episteln bombardieren, ihm womöglich auflauern. Er würde diese Carolina Cardoso in tiefste Seelenpein stürzen, wenn keine weiteren Briefe folgten. Nein, er würde ihn besser nicht abschicken.
    Einige Stunden später machte Rui sich zu seinem gewohnten Abendspaziergang auf. Der Umschlag lag auf der Konsole und schien ihn zu verspotten. Ein seniler und sentimentaler Opi war er – also wirklich, Ronaldos Fanpost zu beantworten! Gleichzeitig dachte er an den kurzen Moment perfekten Glücks, den er diesem Mädchen verschaffen konnte. Er steckte das Kuvert ein und warf es in den ersten Briefkasten, an dem er vorbeikam, bevor er es sich anders überlegen konnte.
     
    Die Freude der Empfängerin hätte überbordender nicht sein können. Doch Carolina war bodenständig genug, um zwischen den Zeilen den Wunsch ihres Helden zu lesen, nicht weiter behelligt zu werden. Herr bewahre! Noch einmal würde sie einer so kindischen Laune gewiss nicht nachgeben. Sie las den Brief unzählige Male, schnupperte an ihm, hielt ihn sich an die Wange, als könne sie damit ihrem geliebten Ronaldo näher sein. Eines Tages aber schloss sie ihn, zusammen mit der Perlenkette ihrer Großmutter sowie anderen, weniger wertvollen Schmuckstücken in ihre Schatulle, auf deren Boden er lange unbeachtet liegen blieb.
    Erst viele Jahre später, als man für die Krankheit, zu deren ersten Opfern Carolina Cardoso gehört hatte, die Bezeichnung »Fernsehsucht« erfinden sollte, würde sie an dieses Antwortschreiben zurückdenken. Sie würde sich im Nachhinein für ihren eigenen Brief schämen, den sie in mädchenhaftem Überschwang verfasst hatte, und würde hoffen, dass ihr damaliges Idol ihn vernichtet hatte und er nicht noch im Nachlass auftauchte. Sie würde den Kopf über die Dummheit der Jugend schütteln. Sie würde ihrer eigenen Tochter sagen, dass man wildfremden Leuten keine Liebesbriefe schrieb, und diese würde patzig antworten: »Ach, was verstehst du schon davon? Du stehst ja auf Tattergreise wie Ronaldo Silva!« Carolina würde in sich hineinlächeln – und dann den nagelneuen Farbfernseher einschalten, den ihr kleiner, dicker Ehemann ihr nur deshalb bewilligt hatte, damit er selber die Benfica-Spiele in Farbe sehen konnte.

43
    D ie Luft war heiß und schwül. Es juckte ihn überall. Schweiß und Schmutz und die Angst, sich durch eine unvorsichtige Bewegung zu verraten, ließen ihn jede Faser seines Körpers spüren. Unzählige Moskitos fanden ihren Weg durch das tropische Dickicht. Es kostete ihn seine ganze Selbstbeherrschung, nicht nach ihnen zu schlagen. Seine Kopfhaut machte ihn wahnsinnig – unter dem Helm war es kochend heiß. In seinem Gedärm rumorte es schon wieder. War er nicht lange genug von Durchfall geplagt gewesen? Doch er wusste, dass es diesmal nicht an vergammeltem Essen und verdorbenem Wasser lag. Es waren die Leichen. Oder besser: die abgetrennten Köpfe, die überall herumlagen.
    Die Brutalität der angolanischen Untergrundkämpfer war unbeschreiblich. Selbst ihn, der den Unabhängigkeitsbestrebungen der Kolonie anfangs viel Sympathie entgegengebracht hatte, begannen nun Zweifel zu überfallen. Diese Barbaren waren roh und grausam. Sie waren eindeutig nicht

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