So weit der Wind uns trägt
will.
»Zufällig ja. Ich fahre im September nach Hause, zu einem großen Familienfest. Aber dann werde ich …«
»Ich hab nur noch ein paar Sekunden«, unterbrach er sie. »Sag mir schnell deine Telefonnummer in Lissabon.«
» 270 451 .«
»Danke. Bis bald.« Er legte auf.
Marisa blieb ein paar Minuten reglos neben dem Telefon sitzen. Merkwürdige Zufälle gab es. Gerade gestern erst hatte sie an Ricardo gedacht, an diesen Urlaubsflirt, aus dem sich nie mehr entwickelt hatte und aus dem auch in Zukunft nie mehr werden würde. Sie waren vom Pech verfolgt gewesen. Erst die peinliche Polizeiaktion, dann der Tod seiner Großmutter. Marisa wusste, dass Ricardo sie auf immer mit diesem Unglückstag in Verbindung bringen würde. So wie sie nie an ihren Onkel Afonso denken konnte, ohne sich zugleich auch an den qualvollen Tod ihres Pudels zu erinnern, mit dem ihr Onkel als Letzter spazieren gegangen war. So war das nun einmal. Es traf sie ebenso wenig Schuld am Tod der Oma wie Onkel Afonso am Tod des Hundes, und doch wären die anwesenden Personen im Gedächtnis der Trauernden für immer verknüpft mit dem traurigen Ereignis.
Zu schade. Der Kuss war sehr verheißungsvoll gewesen – und sinnlicher als alle Küsse, die sie je mit Sérgio ausgetauscht hatte. Ricardos Hände waren zärtlich und zupackend zugleich gewesen, auch das etwas, was man von Sérgios Patschehändchen nicht behaupten konnte.
»Wer war das?«, wollte der nun wissen.
»Ach, ein alter Bekannter.«
»Aus Lissabon? Wieso kenne ich ihn nicht? Du hast mir nie etwas von einem Ricardo erzählt.«
»Nein, aus Beja. Ich habe ihn kennengelernt, als ich bei Tante Joana zu Besuch war.«
»Und wieso ruft er dich hier an, noch dazu mitten in der Nacht?«
»Sérgio, bitte. Du führst dich auf wie ein eifersüchtiger Ehemann. Es ist nicht mitten in der Nacht.«
»Und wieso ruft er an?«, wiederholte er seine Frage.
»Keine Ahnung.«
»Ach?«
»Du solltest dich sehen, Sérgio. Was willst du mir eigentlich unterstellen?«
»Nichts. Ich möchte nur, dass wir keine Geheimnisse voreinander haben. Ich will deine Freunde kennen.«
Marisa zuckte mit den Schultern. So verwunderlich war das nicht, schließlich waren sie verlobt. Und außerdem hatte sie ja gar nichts zu verbergen, oder?
»Ich habe ein bisschen mit ihm geflirtet.«
»Aha, da kommen wir der Sache schon näher. Und weiter?«
»Weiter nichts.«
»Sicher ist er ein ungehobelter Lümmel, so wie dieser Fischer in Nazaré.«
»Werde jetzt bitte nicht ausfallend«, fuhr sie ihn an. Mit solchen Floskeln demonstrierte man seine moralische Überlegenheit immer am besten. Dennoch versetzte es ihr einen kleinen Stich, dass Sérgio anscheinend mehr über sie wusste, als ihr lieb war. »Ein alter Freund ruft mich an, aus Angola. Wahrscheinlich ist er dort Soldat. Ich weiß nicht, welche Probleme er hat, dass er sich jetzt meldet, nachdem ich ewig nichts von ihm gehört habe. Du aber hast nichts anderes zu tun, als mich gleich mit deinen schmutzigen Phantasien zu überfallen.«
»Jetzt ist er also schon ein alter Freund und kein alter Bekannter mehr.«
»Hör auf damit. Am besten gehst du jetzt. Es ist eh an der Zeit. Die Concierge verpetzt mich sofort, wenn ich
mitten in der Nacht
Herrenbesuch habe.« Sie grinste ihn hämisch an.
Sérgio stand auf, nahm sein Jackett von der Stuhllehne, schlüpfte hinein und machte einen angedeuteten Diener. »Wie Mademoiselle belieben. Adieu.«
Als er fort war, goss Marisa sich ein Glas Ricard ein. Es war kein Eis da, aber egal. Ihr erster Ehekrach, dachte sie, und das noch vor der Hochzeit. Diese war für September anberaumt, und ihre Mutter machte einen Riesenwirbel darum. Es sollten mehr als hundert Gäste kommen – mehr als hundert Zeugen dafür, wie sie einem Mann das Jawort gab, den sie nicht wirklich liebte. Vielleicht hatte der Anis ihren Kopf erfrischt. Jedenfalls erkannte Marisa mit nie da gewesener Klarheit, was für eine Dummheit sie zu begehen im Begriff war.
Sérgio passte zu ihr. Er war intelligent, gebildet, kam aus gutem Haus, hatte eine glänzende Karriere als Anwalt vor sich und sah sogar ganz passabel aus. Er war nett. Seine Eltern waren nett. Ihre Eltern mochten ihn und hatten ihr gut zugeredet, seinen Antrag anzunehmen. Ihr Bruder kam gut mit ihm klar. Ihre und Sérgios Eltern hatten sich inzwischen angefreundet und trafen sich gelegentlich zum Kaffee in Lissabon. Es war eine absolut eindeutige Sache. Oder?
Sérgio war ihr nach Paris
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