So weit der Wind uns trägt
gegnerischen Gebiets und die Durchführung von Nadelstichoperationen. Er war aus einer Art Dämmerzustand gerissen worden, schnell und brutal. Er hatte plötzlich erkennen müssen, dass er seine Jugend vergeudet hatte. Wenn man bei vierzig Grad im Schatten mit schmerzenden Gliedern, hämmernden Kopfschmerzen und lähmender Angst in einem Bohnenfeld liegt und sich einem erbarmungslosen Feind gegenübersieht, sehnt man sich auf einmal nach den früheren Sorgen. Nach all den belanglosen Problemchen.
Wie hatte er, wunderte Ricardo sich, jemals so dumm sein können, auf die Möglichkeiten zu verzichten, die seine Eltern ihm angeboten hatten? Warum war er nicht weiter zur Schule gegangen? Warum hatte er seine Mutter verhöhnt, als sie ihm ein Jahr im Ausland spendieren wollte? Warum hatte er Jack und seine Bitten, ihn in Amerika zu besuchen, immer wieder abgewimmelt? War er noch ganz bei Trost gewesen? Was in aller Welt hatte ihn im Alentejo gehalten? Warum war es ihm bedeutsamer erschienen, vor seinen Kumpeln lässig zu wirken, als etwas wirklich Lässiges zu tun, zum Beispiel seinen Verstand einzusetzen?
Erst der Ortswechsel hatte ihn aufgeschreckt aus seiner Lethargie. Es hatte offenbar einer Luftveränderung bedurft, um seine Gehirnzellen in Schwung zu bringen. Er hatte Distanz gebraucht, um sich von dem Teufelskreis, in dem er zu Hause gefangen gewesen war, zu befreien. Aus der Entfernung sah er alles viel klarer, als er es daheim jemals vermocht hätte. Obwohl Ricardo dem Militär und der Kolonialpolitik Salazars nicht viel Gutes abgewinnen konnte, war es doch genau ihnen zu verdanken, dass er aus seinem lustlosen, monotonen, visionsfreien Alltag herausgerissen worden war. Er war endlich aufgewacht. Von jetzt an würde alles anders werden. Er würde seine Gaben nicht brachliegen lassen, und er würde sein Leben nicht wegwerfen.
»Da Costa blufft wieder«, sagte sein Freund Jacinto.
»Ach komm, Assis, du Hosenscheißer. Warum steigst du dann schon aus?«
»Weil ich keinen Royal Flush habe, deshalb.«
»Tja …« Ricardo hatte natürlich auch kein nennenswertes Blatt auf der Hand, aber diese Tölpel ließen sich immer wieder von ihm täuschen.
»Glück im Spiel, Pech in der Liebe«, frotzelte Assis. »Ich spare mein Geld lieber und kaufe Rosinha dafür einen Verlobungsring.«
»Wenn sie in der Zwischenzeit nicht mit einem anderen angebändelt hat.«
»Hör auf damit, da Costa. Noch ein gemeines Wort über mein Mädchen, und ich polier dir die Fresse.«
»Ich erhöhe um zehn. Wer geht mit?« Ricardo tat so, als hätte er Jacinto gar nicht gehört. Er war ein bisschen jähzornig, der gute Assis. Und Ricardo hatte nicht die geringste Lust, sich mit ihm anzulegen. Aber sein Kamerad gab keine Ruhe. Wahrscheinlich hatte er schon ein bisschen zu viel intus.
»Und wer erwartet dich, wenn du heimkommst? Hä? Keine. So sieht es nämlich aus. Weil du ein Fiesling vor dem Herrn bist.«
Ricardo hätte allerlei zu erwidern gewusst, tat es aber nicht. Er wollte den armen Kerl, der heute Abend schon seinen halben Sold verspielt hatte, nicht noch mehr reizen, indem er ihn etwa mit dem Aussehen seiner Verlobten aufzog. Jacinto hatte ein Foto von ihr, das er andauernd herumzeigte. Sie hatte Glubschaugen und eine niedrige Stirn.
»Ja«, fuhr Jacinto Assis wütend fort, durch Ricardos Schweigen erst recht aufgestachelt, »in der Heimat will dich keine. Nur so ein Negerliebchen in Luanda konntest du ergattern.«
»Sag mal, Saldanha, hörst du da auch Neid heraus?«, wandte Ricardo sich an den Soldaten zu seiner Linken.
»Hört doch auf damit.« José Saldanha rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl herum. Er war ein friedfertiger Mensch.
»Also, ich höre ganz klar Neid in Assis’ Stimme. Weil er nämlich kein Negerliebchen haben kann, ohne seiner Rosinha untreu zu werden. Ich dagegen kann zehn haben. Oder noch mehr. Mit dem Geld, das ich euch heute Abend abknöpfe, kann ich die reinste Orgie mit ihnen feiern.« Er fiel in ein künstliches Gelächter, wurde aber sofort wieder ernst. Der Blick von Assis verhieß nichts Gutes. Er war in der Laune, sich zu schlagen.
»So, noch mal zehn, und ich will sehen.« Ricardo hatte plötzlich das dringende Bedürfnis, sich aus dieser Pokerrunde zurückzuziehen. Nicht, weil er eine Prügelei mit Jacinto gefürchtet hätte – er selber würde mit ziemlicher Sicherheit als Sieger daraus hervorgehen –, sondern weil er schlicht keine Lust mehr auf schmerzende Knochen und Platzwunden
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