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So weit der Wind uns trägt

So weit der Wind uns trägt

Titel: So weit der Wind uns trägt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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gefolgt, was alle außer ihr selber sehr romantisch fanden. Sie hätte hier lieber mehr Kontakt zu Franzosen gehabt, denn darum ging es ja letztlich. Wie sollte sie jemals ihr Französisch aufpolieren, wenn sie andauernd Portugiesisch sprach? Andererseits war es natürlich nicht schlecht, jemanden zu haben, der ihr Heimweh linderte, jemanden, der sie zum Essen ausführte oder ins Theater. Marisa war schon einige Monate in der Stadt gewesen, bevor Sérgio ihr unaufgefordert Gesellschaft leistete. Sie wusste, wie einsam man unter Millionen fremder Menschen sein konnte. Und trotzdem.
    Nach außen hin hatte sie ihre Unabhängigkeit. Sie wohnte allein in einer
chambre de bonne
, einem ehemaligen Dienstmädchenzimmer im sechsten Stockwerk eines Gebäudes ohne Fahrstuhl. Eine Dachkammer nur, aber ihr erstes eigenes Reich. Das Haus gehörte entfernten Verwandten von ihr, und es war ein unglaublicher Zufall, dass sie ausgerechnet heute deren Wohnung im ersten Stockwerk hatte hüten müssen – andernfalls hätte niemand Ricardos Anruf entgegengenommen.
    Obwohl Sérgio sich gern wie der Hausherr aufführte, war es natürlich ausgeschlossen, dass er zu ihr zog. Sie waren noch nicht verheiratet, und bei aller Freizügigkeit, mit der die Franzosen sich gern brüsteten, waren sie doch kaum weniger konservativ und katholisch als ihre eigenen Landsleute. Sérgio hatte für die Dauer seines Paris-Besuchs ein Hotelzimmer genommen. Das passte zu ihm. Er musste immerzu seinen ererbten Wohlstand herzeigen.
    Marisa goss sich ein weiteres Glas lauwarmen Pastis ein. Sie betrachtete die Flasche. Ricard. Fehlte nur noch ein »o« hintendran. Was ihm wohl auf der Seele gelegen hatte? Angola, der arme Kerl. Man hörte nur Furchtbares über die Dinge, die sich dort ereigneten. Wahrscheinlich war er angesichts seiner grässlichen Erlebnisse einfach nur wehmütig geworden, hatte Sehnsucht verspürt nach einer netten Stimme und einem belanglosen Gespräch. Bestimmt war er einsam. Und vielleicht hatte er gehofft, dass er im Gespräch mit einer Person, die ihm nicht allzu nahe stand, in diesem Fall also mit ihr, mehr Ablenkung finden würde, als wenn er mit seinen Nächsten sprach. Die würden ihn ausquetschen, würden ihn ihre Ängste spüren lassen und ihn ganz gewiss nicht aus diesem Alptraum entführen. Ja, so musste es gewesen sein. Es war die einzige sinnvolle Erklärung.
    Marisa schloss die Augen. Ihr war ein bisschen schwindelig. Sie hatte nichts gegessen, fiel ihr jetzt ein. Da wirkte der Alkohol doppelt so schnell. Es war kein unangenehmes Gefühl. Es fühlte sich so ähnlich an wie der Schwindel, den sie nach dem Tanz mit Ricardo auf diesem schrecklichen Dorffest verspürt hatte. War das wirklich schon vor fünf Jahren gewesen? Meine Güte, sie war wirklich nicht mehr zu retten! In ihrem Kopf wirbelten Erinnerungsfetzen durcheinander. Ah, nur eine Sekunde die Beine hochlegen. Marisa streckte sich auf dem Sofa aus, ließ die Augen geschlossen und gab sich den schönen Wahrnehmungen hin, die der Pastis ihr eingegeben hatte. Eine tiefe Stimme. Ein Paar männlicher, kräftiger Hände. Volle, feste Lippen. Ein dunkler Schatten auf den Wangen und am Kinn. Und diese grünen Funken … Seine Augen waren das letzte Bild, das sie sah, bevor sie auf dem Sofa ihrer Verwandten in tiefen Schlaf sank.

44
    D ie Kamelien blühten. Ihr Duft lag schwer und süß über dem Park, in dem Jujú und Fernando auf einer Bank saßen. Jujú beobachtete die Kinder, die am Teich standen und die Enten ärgerten. Fernando sah immer wieder hinüber zu dem steinernen schwarz-weiß karierten Spielfeld. Zwei Männer, die etwa in seinem Alter waren, spielten Schach. Weiß war am Zug, und Fernando fragte sich, warum der Mann noch zögerte. Da gab es doch gar kein Vertun. Kindergekreische riss ihn aus seinen Überlegungen, wie er in drei Zügen Schwarz mattgesetzt hätte. Die Gören hatten einen Schwan gereizt, der schnatternd auf sie losging. Na, das würde ihnen eine Lehre sein. Er sah blinzelnd zu Jujú hinüber. Hinter ihr stand die Sonne schon sehr tief und blendete ihn. Sie leuchtete ein paar Haare, die sich aus der vornehmen Hochsteckfrisur gelöst hatten, von hinten an. Es sah aus, als hätte Jujú einen Heiligenschein.
    Nachdem die Kinder fortgerannt waren, hatte Jujú die Augen geschlossen. Sie genoss die Wärme auf ihren Schultern, an ihrem Hals, auf ihrer Kopfhaut. Der Duft war betörend, und wäre nicht der entfernte Lärm des Autoverkehrs gewesen – Hupen,

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