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So weit der Wind uns trägt

So weit der Wind uns trägt

Titel: So weit der Wind uns trägt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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reif, sich selber zu regieren. Sie massakrierten ja nicht nur die verhassten weißen Kolonialherren, sondern sogar ihre eigenen Landsleute. Die Provinz Uíge, insbesondere der Nordosten mit den Ortschaften Maquela do Zombo, Damba und Quimbele, war die Keimzelle des Terrorismus. Die Bacongos erhielten Unterstützung von jenseits der Grenze zu Belgisch-Kongo, und sie schlachteten alles ab, was ihnen in die Quere kam – auch die Bailundus, die den Fehler begingen, gemeinsam mit ihren weißen Herrschaften aus den abgelegenen Siedlungen fliehen zu wollen.
    Ricardo versuchte durch den Mund zu atmen. Der Verwesungsgeruch, der über allem hing, machte ihm schwer zu schaffen. Wann und wie sollten sie die Leichen und die abgetrennten Köpfe wegschaffen, solange die Rebellen überall lauerten? Wann würde es endlich regnen, wann würden die Rinnsale aus Blut weggewaschen werden? Hier bei Quibocolo gab es kaum einen Weg, auf dem nicht die grausigen Spuren der Mordlust der UPA , der União das Populações de Angola, zu sehen und zu riechen waren.
    Ricardo blickte nach links. Etwa dreißig Meter von ihm entfernt lag Jacinto Assis im Unterholz, das Gewehr bereit, den Blick starr auf den Feldweg gerichtet. Die UPA -Kämpfer konnten nicht weit sein. Und Ricardo, Jacinto sowie die anderen acht aus ihrem Trupp würden sie niedermähen. Vielleicht sollte man ihnen, dachte Ricardo, ebenfalls die Köpfe abschlagen. Sie glaubten erst, dass jemand tot war, wenn er enthauptet war. Leichen, die einzig ein paar Einschusslöcher aufwiesen, nahmen sie nicht ernst.
    In diesem Augenblick hörte er sie. »Ulalá, UPA , UPA …«, riefen sie im Chor, als wäre es eine Formel zur Beschwichtigung der Götter. Es ging Ricardo durch Mark und Bein, diese Schlachtrufe in der eigenen und doch beängstigend fremd klingenden Sprache. Schöne »Union der Völker Angolas«. Sie waren Wilde. Sollten sie sich doch alle gegenseitig umbringen. Was wollte Portugal eigentlich mit einem Land wie diesem? Außer Kaffee, Bohnen und Erdnüssen brachte es nicht viel hervor. Warum mussten sich junge Männer wie er in diesen Dschungel begeben, um sie von ihrem Ziel, unabhängig zu werden, abzuhalten? Sollten sie doch. Sie würden schon sehen, was sie davon hatten. All das ging Ricardo im Bruchteil einer Sekunde durch den Kopf. Er konnte es sich nicht leisten, jetzt an Politik zu denken. Er konzentrierte sich nur noch auf die Männer, die er in diesem Augenblick als seine Feinde betrachten musste. Um das Leben der letzten Weißen in diesem Gebiet zu retten, musste er zunächst sein eigenes schützen. Dann feuerte er.
     
    Nie zuvor war ihm Luanda schöner erschienen. Die Entbehrungen der vergangenen Wochen, die Angst, der Gestank, die Gräuel schienen eine Ewigkeit entfernt zu sein. Zum ersten Mal seit langem konnte er wieder ruhig schlafen, obwohl er auch jetzt kaum mehr als vier Stunden Schlaf brauchte. Aber das war immer schon so gewesen. In der Hauptstadt gab es sauberes Wasser und halbwegs schmackhaftes Essen. Die eingeborene Bevölkerung war den portugiesischen Soldaten, die zunehmend das Stadtbild prägten, freundlich gesonnen. Die Haut wie die Stimmen der afrikanischen Frauen waren weich und schmeichelnd, genau wie die Luft, die über den Strand wehte. Sie duftete nach Salz und
saudades
. In wenigen Tagen würde Ricardo zurück nach Portugal beordert werden. Andere, unverbrauchte junge Soldaten würden kommen und den sinnlosen Kampf fortführen.
    Noch immer fragte Ricardo sich, welcher Teufel ihn geritten hatte, als er sich freiwillig zur Ausbildung als Fallschirmjäger gemeldet hatte. Hatte er allen Ernstes geglaubt, dass es mit dem Schweben in der Luft getan war? Leider, musste er sich eingestehen, war es so gewesen. Er hatte nur den Moment vor Augen gehabt, da er allein zwischen Himmel und Erde und sein Leben an ein paar Nylonfäden hing. Über alles andere hatte er sich gar keine Gedanken gemacht: dass er in unwegsamem Gelände eingesetzt werden würde, in dem es vor Feinden nur so wimmelte; dass er seine gesamte Ausrüstung, die mehr wog als er selber, am Leib tragen musste; dass er nicht auf Nachschub und Unterstützung von Bodentruppen rechnen konnte; dass er bei aller relativen Selbständigkeit doch immer auf das Kommando seines Vorgesetzten zu hören hatte, ganz gleich, wie unlogisch ihm die Befehle erscheinen mochten.
    Die Zeit beim Militär und besonders der Einsatz in Angola hatten ihn jedoch mehr gelehrt als die erfolgreiche Infiltration eines

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