So weit der Wind uns trägt
würde.« Er sah in den Himmel, als wäre er ein Bauer mit langjähriger Erfahrung in Wetterbeobachtung. Na ja, mit dem Wetter kannte er sich schon aus. Wer in so vielen Flugzeugen gesessen hatte wie er und so oft aus ihnen abgesprungen war, der musste über ein Minimum an meteorologischen Kenntnissen verfügen. Dennoch kam ihm seine Bemerkung vollkommen bescheuert vor. Hätte ihm nicht etwas Romantischeres einfallen können? Musste er ein vornehmes Stadtmädchen mit seinen Beobachtungen zum aktuellen Stand der Dürre belästigen?
»Ja«, erwiderte sie. »Unser Garten ist auch ziemlich verdorrt.« Das beruhigte Ricardo ein wenig. Marisas Bemerkungen waren kaum geistreicher als seine.
Der Wind frischte auf. Er wehte eine Haarsträhne in Marisas Gesicht, die sie sofort wieder nach hinten strich. Ihr Gesicht war der Sonne zugewandt. In dem roten Licht wirkte es sehr jung und verletzlich. Marisas Blick war melancholisch in die Ferne gerichtet, aber Ricardo vermutete, dass sie ihm etwas vorspielte und nicht halb so in Gedanken versunken war, wie sie tat. Er hoffte es. Er hoffte, dass sie ebenso nervös war wie er, dass auch ihr Herz bis zum Hals schlug und dass sie genau solche Lust auf einen Kuss hatte wie er. Ricardo fand sie zum Anbeißen. Er rupfte einen Grashalm ab und kitzelte sie damit im Nacken, ohne dass sie ihn dabei sehen konnte. Sie schlug nach der Stelle – wahrscheinlich dachte sie, dass ein Insekt sich an ihr gütlich tat. Er wiederholte das Ganze. Diesmal rieb sie ihre Haut, als hätte tatsächlich ein Tier zugebissen. Ricardo lächelte. Bevor sie ärgerlich wurde, strich er mit dem Grashalm über ihre Ohren und ihre Wangen, diesmal so, dass sie es sah. Sie drehte ihm ihr Gesicht zu und erwiderte sein Lächeln.
In dem weichen Licht der letzten Sonnenstrahlen tanzten die grünen Sprenkel in seinen Augen. Sie fand Ricardo unwiderstehlich. Er sah ein bisschen aus wie ihr Lieblingsschauspieler, Alain Delon. Etwas dunkler vom Typ und durch die pockennarbige Haut ein wenig derber. Aber es haftete ihm eine ähnliche Aura von Gefahr an, von Leidenschaftlichkeit. Aus seinem Blick sprach die Fähigkeit, tief zu empfinden, in jeder Hinsicht. Sie sah ihm an, dass er ebenso abgrundtief hassen wie stürmisch lieben konnte. Marisa dachte kurz an Sérgio und dessen begrenztes Spektrum an Gefühlsregungen, das kaum je von der Mitte abwich – verhaltener Ärger, gebremstes Liebesvermögen, gedrosselter Ehrgeiz. Ricardo dagegen war eindeutig jemand, der sie um den Verstand bringen konnte. Und sich selber wahrscheinlich auch.
Er beugte sich näher zu ihr. Als sein Gesicht dem ihren ganz nah war, hielt er kurz inne, als wartete er auf ein Signal von ihr. Die letzten Zentimeter, die zwischen ihnen lagen, überbrückte sie. Sie reckte sich ihm entgegen, und als ihre Lippen sich trafen, war es wie ein kleiner elektrischer Schlag. Der Kuss war wundervoll. Er begann mit zaghaften Berührungen ihrer Münder, in einer Folge kleiner, keuscher Küsschen. Dann wurde er inniger, fester, bis ihre Lippen und Zungen in atemloser Gier miteinander verschmolzen.
Ricardos eine Hand lag auf Marisas Hinterkopf, wühlte sich unter ihr Haar und drückte sie immer fordernder an sich, während er mit der anderen ihren Körper erforschte. Ungeschickt fummelte er am Verschluss ihres Büstenhalters herum, und Marisa hätte ihm bereitwillig geholfen, wäre nicht in diesem Augenblick ein dicker Regentropfen genau auf ihrer Stirn gelandet. Sie zog sich aus seiner Umarmung zurück und schaute in den Himmel. Sie waren so sehr miteinander beschäftigt gewesen, dass sie dem Wetter nicht die geringste Aufmerksamkeit geschenkt hatten. Dunkle Wolkentürme zogen über die Landschaft. Ein weiterer Tropfen fiel auf Marisas Gesicht, dann noch einer.
»Komm, lass uns lieber zum Wagen gehen.« Sie stand auf, klopfte sich den Staub von der Rückseite ihres Kleides und reichte Ricardo die Hand, um ihn hochzuziehen.
»Bestimmt bleibt es bei ein paar Tropfen. Das ist hier oft so. Es sieht immer ganz düster aus, und dann passiert nichts.«
»Egal. Ich will es nicht drauf ankommen lassen.« Sie schnappte sich den Picknickkorb, den sie bislang völlig ignoriert hatten, und lief zum Wagen.
Bereits auf dem Weg zu dem Pick-up, der auf dem Feldweg etwa hundert Meter entfernt von »ihrem« Baum stand, erwies sich Ricardos Prognose als falsch. Die Regentropfen wurden immer zahlreicher – dicke Tropfen, die mit einem satten Platsch auf ihre Haut und auf die
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