So weit der Wind uns trägt
zwanziger Jahren keinerlei Renovierung erfahren hatten. In verschnörkelten Goldlettern auf abgerundeten Scheiben in Holzrahmen las man da, um welche Art von Geschäft es sich handelte. Ricardo fühlte sich in Zeiten zurückversetzt, die er aus eigener Anschauung gar nicht kannte: eine
luvaria
Barroso & Filhos gab es da, einen Handschuhladen; die
chapelaria
der Hutmacherin Joana Soares; außerdem eine
retrosaria
, einen Kurzwarenladen, sowie Vergolder, Geigenbauer, Buchbinder, Stukkateure und jede Menge andere Professionen, die woanders längst vom Aussterben bedroht waren.
Die Passanten waren hier gut gekleidet. Sie schlenderten in gemächlichem Tempo durch die Straßen, saßen gemütlich unter den Sonnenschirmen im Freien und verbreiteten keinerlei Hektik. Einzig das Gebimmel der Straßenbahnen und das aufdringliche Gehupe der Autos vermittelten einem das Gefühl, dass man sich in einer Stadt befand und nicht etwa in einem Urlaubsort außerhalb der Saison. Die gekachelten Fassaden waren etwas besser in Schuss als die, an denen er vorhin vorbeigefahren war, doch auch hier wirkten sie alt, ein wenig schmuddelig, die Farben gedeckter, als sie es ursprünglich gewesen waren. Wo einst vielleicht Weiß und Königsblau um die Wette geleuchtet hatten, da strahlten jetzt Beige und Taubenblau eine diffuse Traurigkeit aus. Ja, alles wirkte traurig, dachte Ricardo plötzlich. Getränkt von jahrhundertealten
saudades
, von Wehmut und dem Wissen, dass die Größe der einstigen Weltmacht Portugal unwiederbringlich verloren war.
Jetzt rangen andere um die Weltmacht, wobei es für einen Westeuropäer keinen Zweifel daran geben konnte, wer letztlich den Kalten Krieg für sich entscheiden würde: die USA – ein Land, das es zu den Zeiten der großen portugiesischen Eroberer noch gar nicht gegeben hatte. Und er, Ricardo da Costa, verstand genau, warum das so war. Weil Amerika jung war, weil es sich nicht lange damit aufhielt, über Vergangenes zu grübeln, sondern immerzu nach vorn sah. Weil es keine Zeit mit Bedauern verschwendete und weil es unbeirrt an sich und seine Überlegenheit glaubte. Das hatten die Portugiesen im späten 15 . und frühen 16 . Jahrhundert auch getan, genau wie die Engländer später. Wer ängstlich war, zweifelte, nachdachte, Skrupel hatte, sich zu eigenen Schwächen bekannte oder etwa anderen Völkern Gleichberechtigung zugestand, der würde überhaupt nichts erobern, geschweige denn sich zu einer Weltmacht aufschwingen können. Frechheit siegte. Und frech, dreist, unverschämt sowie durch und durch von sich und ihrer Unsterblichkeit überzeugt waren immer nur die Jungen.
Er war jung. Na ja, immerhin schon 28 . Aber jung genug, um ab sofort ein wenig frischen amerikanischen Wind in sein verschlafenes Heimatland zu bringen, das einen ja schon beim Ansehen ganz müde und träge machte! Er unterdrückte ein Gähnen und sah auf die Uhr. Er hatte sie noch nicht umgestellt. In Los Angeles war es jetzt genau 3 . 12 Uhr. Kein Wunder, dass er fast einschlief. In Lissabon musste es demnach 11 . 12 Uhr sein – kein schlechtes Timing. Er würde das Wiedersehen mit seiner Mutter schön kurz halten können, um sich dann, nach einem frühen Lunch, aufs Ohr zu legen.
Wenn sie überhaupt zu Hause war. Er hatte zwar angekündigt, dass er im Juli nach Portugal zurückkommen würde, sie jedoch über den genauen Termin im Unklaren gelassen. Er hatte nicht gewollt, dass sie sich am Flughafen gehemmt gegenüberstehen. Am liebsten wollte er auch nicht bei ihr wohnen, aber wenn er sich ein Hotel genommen hätte, wäre das einer Kriegserklärung gleichgekommen. Und Ricardo war entschlossen, die friedliche Distanziertheit, die ihre Beziehung auszeichnete, nicht mutwillig aufs Spiel zu setzen.
Er hätte sie vom Flughafen aus anrufen sollen. Es war unhöflich, einfach so hereinzuplatzen. Er bat den Taxifahrer, anzuhalten.
»Aber die Rua Ivens liegt noch zwei Straßen entfernt.«
»Ja, ich weiß. Ich möchte trotzdem gern hier schon aussteigen.«
Er bezahlte in Dollar. Umgerechnet erschien ihm der Fahrpreis lächerlich niedrig, weshalb er dem Mann fünf Dollar gab und sagte, der Rest sei für ihn. Ricardo wunderte sich über seine eigene Schusseligkeit. Auch etwas Geld hätte er schon am Flughafen wechseln sollen. Ging ihm die Heimkehr doch näher, als er es sich selber zugestand?
Er nahm seinen kleinen Koffer und setzte sich in ein Straßencafé. Er bestellte ein
pastel
und einen
carioca
, einen etwas schwächeren Kaffee.
Weitere Kostenlose Bücher