So weit der Wind uns trägt
Leinenhose eine Art Tunika. Man sah in dem kragenlosen Ausschnitt eine dicht behaarte Brust und ein Kettchen mit Haifisch-Anhänger.
Ricardo dachte an einige seiner Bekanntschaften in den Staaten, die ähnlich herumliefen – die allerdings auch zwanzig Jahre jünger waren als dieser Mann, den er auf etwa vierzig schätzte. João Carlos machte den Eindruck eines
dirty old man
auf ihn, eines versauten, alten Knackers. Wahrscheinlich gab er ein Interesse an Indien nur vor, um die Stellungen aus dem Kamasutra ausprobieren zu können. Er war Ricardo auf Anhieb unsympathisch, was, wie es schien, auf Gegenseitigkeit beruhte. Sie gaben sich die Hand, wurden einander von Laura vorgestellt und verharrten dann schweigend voreinander, den anderen mit geringschätzigen Blicken abtastend.
João Carlos war, wie sich in einem ebenso kurzen wie stockenden Gespräch herausstellte, Geschäftsmann in der Kolonie Goa gewesen, bevor diese von Indien annektiert wurde – na schön, in diesem Punkt hatte Ricardo sich also getäuscht. Seit acht Jahren lebte er wieder in Portugal, wo er sich, wie es schien, von seinem beziehungsweise von geerbtem Geld ein schönes Leben machte und die freie Liebe postulierte – wenn er diese nicht gerade auf seiner Yacht ausübte, mit der er oft und gern durchs Mittelmeer pflügte. Ricardo hatte nie besonders viel für die Hippies übrig gehabt, aber dass ihre Sache von Kerlen wie diesem João Carlos so gnadenlos zum eigenen Vergnügen ausgeschlachtet wurde, passte ihm gar nicht.
»Und du, Ricky? Warum bist du nicht wenigstens noch bis Woodstock drüben geblieben? Man hört, es sollen sich ein paar ziemlich gute Bands angekündigt haben.«
Was zum Teufel sollte er auf so einem Provinz-Festival? Bob Dylan würde nicht kommen, und Joan Baez wollte er weder sehen noch hören. »Ach, Johnny«, antwortete er, »da hätte ich mich fehl am Platz gefühlt. Da kommen sicher lauter solche Leute wie Sie hin.«
Seine Mutter sah ihn konsterniert an. Um die peinliche Stille zu überbrücken, legte sie eine Schallplatte auf. Janis Joplin. Ricardo verdrehte im Geiste die Augen. Wo zum Teufel war er hier gelandet? Würden sie ihm gleich LSD anbieten oder einen Haschkeks? Was fiel ihnen ein, sich wie Jugendliche aufzuführen? Organisierten sie womöglich Protestmärsche gegen den Vietnamkrieg? Und wie hatte es passieren können, dass sich hier, mitten im verschlafenen, rückständigen Lissabon, eine solche Subkultur entwickelt hatte? Er kam sich vor wie in einer Kommune. Plötzlich fiel Ricardo ein, dass sich durchaus noch mehr dieser Leute hier aufhalten konnten.
»Sag mal«, wandte er sich an seine Mutter, »es lagern nicht zufällig noch andere Jünger Hare Krishnas hier?«
»Was soll das?«, versetzte sie. »Hast du irgendetwas gegen unseren Lebensstil einzuwenden? Ich dachte, in Kalifornien hättest du dich ein bisschen in Toleranz üben können …«
»Schon gut. Tut mir leid,
sorry
.« Er meinte es so. Er bedauerte es aufrichtig, dass er sich von seinen Vorurteilen zu dieser Bemerkung hatte hinreißen lassen. Sollten sie doch ihr Leben leben, wie sie es für richtig hielten. Sollte seine Mutter doch bei jedem neuen Mann, den sie hatte, dessen
lifestyle
, dessen Interessen, dessen Geschmack und dessen politische Überzeugungen zu ihren eigenen machen. Denn so kam es ihm vor: Dank ihres deutlich jüngeren Liebhabers gab sie sich nun als Beatnik. Ihre Anpassungsfähigkeit – und den
Willen
, sich ihren Männern anzupassen – fand Ricardo ärgerlich. Schöne Freiheitskämpferin, dachte er, die nicht einmal genügend Selbstvertrauen hat, mit ihrem eigenen Namen zu ihrer Kunst zu stehen.
»Und du, Ricky, was treibt dich so um im Leben, wenn du nicht gerade über Andersgläubige herziehst?«, fragte João Carlos.
»Das Streben nach Profit selbstverständlich. Was sonst?« Er hatte es so gesagt, als wolle er den Kerl nur vor den Kopf stoßen, doch es kam der Wahrheit ziemlich nahe.
Der Mann lachte schallend und parierte mit einer Gegenfrage, die Ricardo noch lange begleiten sollte.
Sowohl auf der Taxifahrt ins Hotel – die Umstände hatten es ihm leicht gemacht, schließlich doch seinen Wunsch nach Unabhängigkeit zu äußern, ohne seine Mutter allzu sehr zu verletzen – als auch während des Hinabgleitens in seinen lang ersehnten Mittagsschlaf ließ er sich diese Frage immer und immer wieder durch den Kopf gehen, ohne eine befriedigende Antwort zu finden.
»Ha, und da kommst du ausgerechnet nach
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